Circe und die Scheinschweine

■ „Joy of Porno“: Annie Sprinkle mit ihrer „Sexkitchen“ im Modernes / Heile-Sex-Welt und eine Kerze für Somalia

Wie schön, daß es Annie Sprinkle gibt, die jetzt auch im „Modernes“ vor einem aufgeregt hörigen Szenepublikum die Glorie des locker-lässigen „Joy of Porno-Sex“ verkündigt. Schön vor allem für die männliche Klientel, die in der letzten Zeit etwas verunsichert gewesen sein mag — von wegen der Diskussion um die serbischen Massenvergewaltiger und männliche Sexualität überhaupt.

Bei Annie, die breitbeinig auf einem königlichen Sessel lag, durften alle unbefangen Schlange stehen, um in die geöffnete Vagina einzudringen — nur mit den Blicken allerdings, und mit dem ehrenvollen Anliegen, den wunderschönen Gebärmutterhals zu begutachten. Sie folgten Annies aufklärerischer Aufforderung — ein paar Frauen waren auch dabei — und sprachen ihre Eindrücke bereitwillig in ein Radio-Bremen-Mikro. So verlernt man eine lächerliche Scheu, die einem bis dato das Leben vergällte. Hoch Annie!

Wenn einer Außenseiterin im Zuschauervolk Assoziationen wie Soldatenpuff oder die Szenerie aus dem Film „Angeklagt“, aufsteigen, in der johlende Kneipenbesucher drei Vergewaltiger anfeuern, dann hat sie Annies Botschaft einfach nicht kapiert. Die ist nämlich, daß Sex der Schlüssel zu Glück und Gesundheit ist. Immer. In allen Situationen. Man muß sich nur vom erweckungsamerikanischen positiven Denken anstecken lassen.

Annie selbst zum Beispiel hat es in ihrer Laufbahn als All-round-Prostituierte auch nicht immer leicht gehabt. Das erzählt sie mit kleinmädchenhaft lispelnder Stimme und führt es drastisch vor. An einer Reihe erigierter Gummipenisse, die sie unter dem antreibenden Rhythmus dröhnender Musik alle zugleich mit Händen und Mund zu befriedigen sucht, bis ihr beinahe das Kotzen kommt. Und gleich darauf lispelt sie: „Da muß man durch. Ich genieße auch die schlimmen Erlebnisse.“ Bravo!!

Ist es denn nicht schön, daß ein Schwuler die Gelegenheit nutzt, einmal in eine Frau hineinzusehen? Daß eine gemischte WG sich lachend unter Annies großen Brüsten fotografieren läßt? Daß alle im Bummsrhythmus mit Rasseln rasseln, während sich Annie als heilige Tempelhure tabulos mit einem Massagestab unter allgemeinem Jauchzen befriedigt, nicht ohne vorher eine Kerze für Somalia und Jugoslavien entzündet zu haben?

Ist es nicht großmütig, daß sie mit Armamputierten geschlafen hat (Dias beweisen das), mit Kleinwüchsigen (aber der Schwanz war sooooo — ) und mit Aidskranken (vor Ansteckung hat sie Gott bewahrt). „Sex ist so schön, daß ich alles mache, was ihr wollt.“ Vielleicht hätte sogar ein mutiger Hungerleider zum öffentlichen Beischlaf auf die Bühne kommen können, damit wir alle das Trauma der Urszene bewältigen lernen.

Es war nicht schön. Es war bitter verlogen. Weder war Annie im „Modernes“ eine ehrbare Prostituierte, die mit ihrer Arbeit anerkannt sein wollte (sie ist eine knallharte Showfrau), noch, andererseits, eine Circe, die folgsame Männlein in Schweine verwandelt, zugunsten, meinetwegen, deren Selbsterfahrung. Für niemanden war es ein Risiko, Annies „Heile Sex-Welt“-Spiel mitzuspielen. Den Strich um die Ecke aber, den möchte man denn doch lieber verlegt haben. Cornelia Kurth