Kulturrevolution von Rechts

Nachdenkliches zum deutschen Fernsehen, das in der Weihnachtszeit seinen 40.Geburtstag feiert  ■ Von Harry Pross

I.

Am 25.Dezember 1952 bescherte NWDR-Fernsehintendant Werner Pleister ein paar tausend Gerätebesitzern in Hamburg, Hannover, Köln und Berlin ein tägliches Fernsehprogramm: „Das Fernsehen schlägt Brücken von Mensch zu Mensch, von Völkern zu Völkern. So ist es wohl das richtige Geschenk gerade zu Weihnachten, denn es erfüllt seine Möglichkeiten erst dann ganz, wenn es die Menschen zueinander führt und damit beiträgt zur Erfüllung der ewigen Hoffnung der Menschheit: Frieden auf Erden! In dieser Hoffnung beginnen wir mit unserem Programm.“

Das war eine politische Aussage, denn sie repetierte den Programmauftrag des Senders, und 1952 konnte von „Frieden auf Erden“ so wenig die Rede sein wie 1992. Der Kalte Krieg war an seinem Gefrierpunkt angelangt. Den Deutschen saß noch die Angst des Hitlerkrieges im Nacken. Das „neue geheimnisvolle Fenster in die Welt“ hätte wenig Erfreuliches gezeigt und wenig, was „Ihr Leben schöner macht“, wäre es ein Fenster gewesen. Aber der kleine rechteckige Kasten war ja kein Fenster in der engen Wohnung mit dem neuen Nierentisch und dem modischen Whisky.

Er war, wie ein größerer Radioempfänger, holzumkleidet und brachte außer Sprache auch Laufbilder und Laute ins Haus. Nichts zum Hinaussehen, sondern zum Abrufen, was gerade hereingefunkt wurde. „Heimkino“, später „Pantoffelkino“, sagten die Leute dazu. Das war ein Geschenk und ist eines geblieben, zumindest ersparte es die Genickstarre vor der Leinwand im Kino um die Ecke.

II.

Gefunkter Film machte den Anfang, entstanden aus jahrzehntelangen technischen Bemühungen. Sie zu würdigen, ist eine Sache für sich. Für die Pioniere sprach an jenem historischen Abend der Technische Direktor Werner Nestel. Auch dies ein politischer Akt, denn es war damals wie heute die Rivalität zwischen der Post und den Programmveranstaltern im Spiel.

Derselbe Kaiser Wilhelm, dessen Reichskriegsflagge im „größeren Vaterland“ wieder geschwenkt wird, hatte am Telegraphen- und Funkwesen höchst persönlich Anteil genommen. Seit 1908 ist die Genehmigung des Reiches für Anlage und Betrieb Gesetz. Das Reichspostamt wirkte dabei von Beginn an mit der Elektroindustrie zusammen. Von ihr schrieb der Ökonom Sombart, sie leite ein neues Stadium des Kapitalismus ein.

Im Zusammenwirken von Staat und Industrie ist die Genehmigung des Unterhaltungsrundfunks 1923, Hitlers „Volksempfänger“ und schließlich die Verkabelung zu sehen. Sie ermöglichte technisch die totale Kommerzialisierung von Anlage und Betrieb, indem sie drahtlose Technik wieder mit dem alten Kupferdraht verband. Dieser wird freilich wieder durch die übertragungsreichere Glasfiber ersetzt werden, um alle zu vernetzen. Die Steuerzahler im allgemeinen und die Anschlußwilligen im besonderen werden die Kosten tragen, weil sie die herrschende Meinung teilen, angeschlossen sein zu müssen. Es ist Sitte, dabei zu sein.

III.

Die rasch steigenden Zahlen der Fernsehteilnehmer bekamen der Filmindustrie schlecht. Das neue Medium nutzte den ökonomischen Vorteil des Rituals. Wer geht schon ins Lichtspieltheater, wenn er weiß, daß ihm die Zerstreuung, „die Spitze unseres Elends“ (Pascal) zu vorbestimmtem Tag und vorbestimmter Stunde regelmäßig frei Haus geliefert wird? Dies für den Preis von ein paar Zigaretten und ohne nasse Füße und andere Unbequemlichkeiten des Realverkehrs.

Viel Spitze und wenig Elend versprach denn auch Werner Pleister am Weihnachtsabend 1952: „Wir versprechen Ihnen, uns zu bemühen, das neue geheimnisvolle Fenster in Ihrer Wohnung, das Fenster in die Welt, Ihren Fernsehempfänger, mit dem zu erfüllen, was Sie interessiert, Sie erfreut und Ihr Leben schöner macht...“

Was interessiert die Leute? Das Glück. Und wenn sie nicht glücklich sind, die Ablenkung von ihrem Elend. Das weiß die Philosophie seit Jahrtausenden. Die Religionen variieren die Gründe des Elends und die Wege zur Seligkeit. Es blieb dem elektrifizierten Kapitalismus vorbehalten, daraus eine profitable Auszählungsindustrie zu machen, die immer wieder feststellt, daß die Menschen Angst haben, sich zu langweilen, ungern grübeln und eifrig Ablenkung suchen.

1932 hatte das deutsche Radio mit dicken Portionen vaterländischer und Marschmusik die „nationale Erhebung“ eingeläutet. Adorno veröffentlichte im gleichen Jahr seine Abhandlung zur gesellschaftlichen Lage der Musik. Es wäre lehrreich, sie 1992 fortzuführen. 1942 suchte Goebbels „optimistische Schlager“ per Preisausschreiben, und nach Stalingrad zog er „Lili Marleen“ aus dem Verkehr. Die „Wunschkonzerte“ lenkten vom permanenten Elend ab. 1952 kam Weihnachten mit einem Fernsehspiel zur Geschichte von „Stille Nacht, heilige Nacht“ zu Ehren.

IV.

Am zweiten Feiertag waren zwei Fußballspiele über verschiedene Sender angekündigt, Unterhaltungsmusik und um 20 Uhr die erste „Tagesschau“. Die Zusammenarbeit mit der „Film-Wochenschau“ bestimmte den Stil der Anfangsjahre. Dann bevölkerten Laufbilder von „Tele News“ und „United Press“ das „neue geheimnisvolle Fenster“ im deutschen Wohnraum, bis sich eigene Berichterstatter regelmäßig aus dem Ausland präsentieren konnten.

Das tägliche Ritual braucht seinen gleichmäßigen Ablauf und womöglich dieselben Interpreten. Eine Art Fernsehklerus entstand durch Wiedererscheinen derselben Personen in denselben Funktionen wie dem legendären „Tagesschau“-Sprecher Karl-Heinz Köpcke. Das sonntägliche Halbrund von Werner Höfers „Frühschoppen“. Löwenthal (West) und Schnitzler (Ost) als Muntermacher im Kalten Krieg, zuständig für die Moral der jeweiligen Truppe. Hätten sie doch zeitig den „7. Sinn“ bewiesen oder „Die Sendung mit der Maus“ verinnerlicht. Für soziale Zwecke hat Wim Thoelke mehr getan als jeder andere. In 18 Jahren hat er mehr als drei Milliarden durch den „Großen Preis“ erlistet.

Wer zählt die Serien, nennt die Namen? Die Zitterpartien der Rätselsendungen mit dem Quizmaster, der glücksverheißend von der Spitze herunterschwebt wie der Heilige Geist auf einer Pfingstikone, dabei schon für den Applaus dankend, den er noch gar nicht hat. Da weiß auch der letzte Konsument, was oben und unten ist, und himmelt die Erzengel der Serienproduktion an. Die Glücklichen!

Sie verkörpern das ökonomische Prinzip der Konsumgesellschaft, in der ohne Serienproduktion nichts läuft. Darum sind die Stars und Sternchen auch vielseitig verwendbar zu Übertragungszwecken aus einer Branche in die andere. Das im kleinen Rechteck des Fernsehempfängers erworbene Ansehen verzinst sich in der Werbung. Deren Fachleute sprechen von „Image-Transfer“. Er ist in der Regel preisgünstiger, als Markenzeichen neu aufzubauen. Das Fernsehen hat die Investition besorgt.

40 Jahre nach dem ersten Fernsehen in Deutschland karikierte sich das System selbst: Eine öffentlich-rechtliche Anstalt brachte dieser Tage den Erwerb einer Automobilvertretung durch einen Tennis-Profi, der als solcher für die Werbeindustrie agiert, in den Tagesnachrichten, als werde ein Staatsvertrag unterzeichnet. Vor zwanzig Jahren noch hätte das Aufsichtsgremium darauf bestanden, den Verantwortlichen wegen „Schleichwerbung“ abzulösen. Schlafen die Rundfunkräte? Heute kann von Schleichen nicht mehr die Rede sein: Die Reklame galoppiert durch den Programmritus, als sei er für sie gemacht, und damit hat sie nicht unrecht.

Zwischen 1985 und 1990 hat sich das Werbeangebot insgesamt versechsfacht; aber weil der Tag nach wie vor nur 24 Stunden hat, stieg die Nutzung nur von sechs auf acht Minuten. Woher kommt das Überangebot?

V.

Die Erfahrungen mit dem militärisch-industriellen Komplex namens Deutsches Reich, mit der Nazipropaganda im besonderen, haben die westlichen Siegermächte nach 1945 veranlaßt, ein Radiosystem zu lancieren, in dem weder Staat noch Wirtschaftsinteressen den Ausschlag geben sollten. Die Kulturkompetenz lag bei den Ländern. Das Weder-Noch-Radio paßte vielen Veteranen der verlorenen Schlachten der Weimarer Republik freilich nicht in den Kram.

Bundeskanzler Konrad Adenauer beauftragte schon in der Sitzung des Bundeskabinetts am 8.November 1949 seinen Innenminister Heinemann (CDU) zu prüfen, wie der NWDR gehindert werden könne, staatspolitischen Schaden anzurichten. Der antwortete zwei Wochen später, eine rechtliche Möglichkeit gebe es nicht. Daher sei nur die persönliche Einflußnahme auf die verantwortlichen Organe im Sinne einer objektiven Berichterstattung möglich. Aber der Postminister Schuberth (CSU) hielt am 6.Dezember die Übertragung der Funkhoheit auf den Bund für möglich und wurde beauftragt, mit den Sendern darüber zu verhandeln, daß sie zu günstigen Programmzeiten sich der Bundesregierung im regelmäßigen Turnus zur Verfügung stellten.

Zurück zu Weimarer Verhältnissen war die Parole auch bei dem gescheiterten Versuch Adenauers, ein eigenes privatrechtliches Fernsehprogramm aufzubauen. Dieses „Adenauer-Fernsehen“ (1960) verhinderten die Verfassungsrichter. Statt dessen entstand das „Zweite Deutsche Fernsehen“ neben den inzwischen aus Kostengründen zur „Arbeitsgemeinschaft“ (ARD) zusammengeschlossenen Länderanstalten. Die Rundfunkgebühren wurden geteilt, im Zuge der allgemeinen Geldentwertung und kostspieliger Investitionen von Zeit zu Zeit erhöht. Darüber entscheiden die Landesfürsten. Sie können über Parteimitglieder in den Aufsichtsgremien der Rundfunkanstalten auch dort Einflüsse geltend machen. Der Parteienproporz höhlte die in den Rundfunkgesetzen angestrebte Unabhängigkeit der Meinungsbildung von innen aus. Er fraß sich von den Spitzen der Anstalten bis in die Redaktionen hinunter, und es lag in der Logik dieser Lähmung, daß auch Wirtschaftsinteressen auf diese Weise transferiert wurden. Politische Positionen sind immer auch wirtschaftliche.

VI.

In der „Tagesschau“ vom 25.Juli 1960 hatte der Stuttgarter Intendant Bausch (CDU) Adenauers Privat-Fernsehen zu einer „Gefahr für die Unabhängigkeit und Objektivität eines der wichtigsten Informationsmittel“ erklärt und namens der ARD-Intendanten vor den „Folgen für unsere Gesellschaft und das politische Leben“ gewarnt. Der Kölner Intendant Hans Hartmann meinte sogar, die „publizistische Substanz unseres Volkes reiche eigentlich nur für ein zweistündiges Abendprogramm aus“. Seit August '67 war das Farbfernsehen da und bot großartige Möglichkeiten, visuell zu differenzieren.

Auf die Substanz aber kam es immer weniger an. Wie in anderen europäischen Staaten brauchte auch hierzulande die Werbung mehr Möglichkeiten, um die für das Wirtschaftswachstum unerläßlichen neuen Konsumbedürfnisse zu schaffen. Davon hing politisch und ökonomisch auch der Wettlauf mit dem sowjet-russischen Imperium ab. Auf der Basis der gemeinsamen materialistischen Philosophie schob jener die Glückseligkeit ungehemmten Konsums auf den St.Nimmerleinstag vor sich her. Im Westen galt Bedürfnisbefriedigung ohne Aufschub, sofort und dalli dalli. Der österreichische Dichter Hermann Broch hatte schon 1949 im amerikanischen Asyl den Ausdruck „Spannungsindustrie“ gefunden. Sie manipuliert Bilder, um die Konsumenten nicht mehr aus dem Ökonomie-Rhythmus zu entlassen.

Die deutschen Programme paßten sich mehr und mehr ein. Nachdenkliche Sendungen verschwanden in die späten Abendstunden und wurden dann von den zu erwartenden relativ geringen Konsumentenzahlen bedroht. Als ob die absoluten Zahlen nicht noch immer alle Achtung wert wären! Die Oasen des Nachdenkens sollten weichen wie die „Tante-Emma-Läden“ den Supermärkten. Während die Kommunisten und Sozialisten noch an den Kapitalismus des 19.Jahrhunderts glaubten, bildete sich im Westen eine Konsumgesellschaft aus nur zwei Klassen: der Supermarkt-Bourgeoisie und der Boutiquen-Bourgeoisie. Letztere mit der Funktion, die Supermarktklasse durch demonstrativen Konsum symbolischer Werte zur Leistung anzustacheln. Manipulation durch Bilder, die auch in der allgemeinen Anspannung der Sinne und beim flüchtigen Betrachter „nach innen“ gehen, ihn emotionalisieren statt ihn zu informieren, unterstützt durch die Marschmusik des Konsums. „Schlagbilder“ dazu, wie schon Aby Warburg sie genannt hat. Schlagworte dazu, immer kürzer, immer schneller für immer größere Reichweiten. Die „Spannnungsindustrie“ überholt sich selbst. Der Konsument wird zu einem Nervenbündel von Außenreizen umnd „flaniert“ (Rath) durch die Kanäle wie eh und je, aus Angst vor seiner Langeweile von anderen genasführt.

VII.

Ehe es soweit kommen konnte, mußten nach britischen und amerikanischen Vorbildern die konzentrierten Interessen der Werbeindustrie das öffentlich-rechtliche Monopol im Rundfunk brechen. Voran marschierten die Zeitungsverleger, die auch 1990 noch neun Milliarden Werbeeinnahmen gegenüber 3,7 des Fernsehens und einer Milliarde des Radios verbuchen konnten. Der erste Vorstoß, das ZDF mit allen Programmen und Werbung zu beliefern, war ihnen 1964 mißlungen. Zwanzig Jahre später hatten sie dann das „duale System“, privater neben öffentlich- rechtlichen Sendern.

Der jahrzehntelange Lobbyismus hat sich rentiert. Wie die Fäden im einzelnen gezogen wurden, läßt sich nur vermuten. Wenn Gewerbefreiheit und Meinungsfreiheit in Deutschland konfligieren, siegt die Meinungsfreiheit nicht immer. Aber so viel läßt sich sagen: bei gesättigten Märkten und dem durch die Gewohnheit schwindenden Zauber des kleinen rechteckigen Kastens verstärkt sich die Konkurrenz um den Profit.

Die Programme müssen ihren schon diskontierten Wechsel neu verkaufen und im Preis nachlassen. Billigimporte aus den USA füllen die Regale. Sie sprechen vorprogrammierte Befindlichkeiten an. Vor allem die biologischen von Lust und Angst, visualisiert in allen Arten der Paarung. Sie sind im rechteckigen Kasten mit seinen einrahmenden Begrenzungen von oben/unten, hell/dunkel, innen/außen leicht zu realisieren. Als Ursprungsform aller Kommunikationen ist jegliches Paar vom Staatsbesuch bis zum Aufhupferl voyeuristischem Interesse sicher. Gleiches gilt vom Verlust der Vertikalen durch Gewalt. Wer liegt, ist unten. Die Verbindung von Lust und Gewalt sichert das breiteste Interesse.

Zu der zweiten Kategorie der Billigangebote gehören die kulturspezifische Vorprogrammierungen: Statussymbole, Imponiergehabe, aber auch das Kindchen, das zunehmend die Werbung bereichert, jahrzehntelang vorbereitet von den Mainzelmännchen. Folkloristik.

Bleiben noch die gruppenspezifischen Appelle an Altersgruppen, Fans, Landsmannschaften und die Geschlechter. Das ist mit den Umsatzinteressen der Sponsoren vielfältig variierbar, muß aber, um mehr Konsumenten anzulocken, mit der Kategorie1 dramatisiert werden und entsprechender Musike.

Nicht zufällig gelang den kommerziellen Sendern der Durchbruch mit Unterhaltungsprogrammen und der Philosophie, daß das Showgeschäft ein Geschäft ist wie jedes andere. Nichts dagegen, nur sind Sprache und Bild keine Waren wie jede andere, sondern geben dem Zusammenleben der Menschen seine Verfassung. Wer diese Besonderheit ignoriert, zerstört das erreichte humanitäre Niveau. Das Neueste dient dem Zeitgewinn bei Nachrichtensendungen via Satellit live vom Ort des Geschehens in die Sendung. Momentaufnahmen, deren Kürze die Kulisse des Geschehens vor den Hintergrund schiebt. Potemkinsche Fassaden der Information, Statellite News Gathering genannt. Die Kriegsberichterstattung aus Bagdad 1990 war ein eklatantes Beispiel. Was dort wirklich geschah, wissen wir noch heute nicht. Die Wahrheit braucht Zeit; aber die Signalökonomie hat keine. Sie will immer schneller immer kürzer immer mehr Konsumenten erreichen. Harry Pross

Harry Pross arbeitet als freier Autor in Weissen/Allgäu. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1983 war er als ordentlicher Professor für Publizistik und Direktor des publizistischen Instituts an der Freien Universität Berlin tätig. Davor war er fünf Jahre Chefredakteur bei Radio Bremen, von 1962 bis 1969 Mitherausgeber der Neuen Rundschau. Jüngst hat er das Buch „Protestgesellschaft – Von der Wirksamkeit des Widerspruchs“ veröffentlicht.