Im Kreis der Gezeichneten

Tattoos — ein Kunsthandwerk zwischen grünen Kröten und schönen Frauen  ■ Von Klaudia Brunst

Seit zwei Stunden steht Stefan vor Moniques Tischchen und wartet geduldig auf seinen Termin. In der Hand hält er eine kleine, schon etwas abgegriffene Spielkarte. „Es ist der Joker“, erklärt er mir mit etwas zittriger Stimme. „Soll auf den Oberarm.“

Seit einiger Zeit spielt Stefan schon mit dem Gedanken, sich tätowieren zu lassen. Letztes Jahr, auf der ersten Berliner Tattoo- Convention, hat er lange die Motiv-Kataloge der verschiedenen Studios gewälzt, hat sich umgehört, Preise verglichen und seine Hemmungen abgebaut. Jetzt ist er sich endgültig sicher, sein Kumpel schlägt ihm mannhaft auf die noch jungfräuliche Schulter: „Mach ma', wird sicher super.“ Als Stefan dann endlich mit entblößtem Oberkörper auf dem Plastikstühlchen sitzt, ist seine Miene noch eine Spur entschlossener, ja fast schon verkrampft. Monique, die Wiesbadener Tattoo-Meisterin, malt mit einem Filzstift den kleinen Joker auf die frisch rasierte Haut, reicht ihrem jungen Kunden einen kleinen Kosmetik-Spiegel und handelt den Preis aus: 250 bis 300 Mark für eine handtellergroße Farb-Tattoo, je größer und komplizierter, desto teurer. Bezahlt wird cash und vorab.

Tattoos kommen in Mode. Nach einem Boom in den USA und in Australien sprießen auch in Europa die Studios wie Pilze aus dem Boden. Gut zahlende Kunden gibt es mittlerweile genug. „Aber mit der ersten Tätowierung machen sie es sich immer am schwersten“, erklärt mir Monique, während sie den „Joker“ verarztet, „und das ist auch gut so.“ Schließlich ist es immer noch eine Entscheidung für die Ewigkeit. Man kann zwar alte Motive übermalen, kleine mißlungene Grafiken in größere integrieren oder den Schandfleck sogar chirurgisch entfernen lassen. Aber Narben bleiben auch dann immer zurück. „Und die läßt man dann am besten wieder tätowieren“, meint Monique, deren Hauptbeschäftigung in Korrekturen und Erweiterungen alter Arbeiten besteht.

Auch Anna, eine junge Rechtsanwältin aus Bremen, sucht auf der Messe nach einem Free-Hand-Tätowierer, dem etwas zu ihrer Lilie auf der Schulter einfällt. Die kleine Schwarzweiß-Tattoo begleitet sie schon seit ihrem zweiten Lebensjahr. Es ist das alte Familienwappen, im Alter von zwei Jahren wurde es ihr in die junge Haut geritzt, „höchstwahrscheinlich auf dem Küchentisch“. Entsprechend unakkurat und verwachsen ist die Lilie – nicht gerade ein Schmuckstück.

Das soll jetzt anders werden: „Wenn schon tätowiert, dann wenigstens schön“, meint Anna und zieht ihr Hemd herunter, um einem bärbeißigen Engländer das Corpus delicti zu zeigen. Der wiegt bedächtig den Kopf, nimmt ein Transparentpapier zur Hand, um das Motiv abzuzeichnen und malt dann hier einen kleinen Schnörkel dazu, dort eine kleine Ranke. Nein, das ist es noch nicht ganz. Anna bedankt sich und streift weiter durch das dichte Gedränge der Schaulustigen und Festentschlossenen.

Die Kunst des Tätowierens – die Ethnologen sprechen exakter von „tatuieren“ – hat ihre Wurzeln in der Südsee. Während die christlich-europäische Kulturtradition den unversehrten Körper zum Ideal erhebt, hat die Ornamentierung der Haut bei den sogenannten „Naturvölkern“ Polinesiens, Mikronesiens und Melanesiens eine lange religiöse Tradition. So entspringt beispielsweise die Praxis der Narbentatuierung in Papua-Neuguinea einem religiösen Mythos, in dessen Mittelpunkt ein mächtiges Krokodil steht, das die Welt und alles Leben erschaffen haben soll.

Einmal im Jahr wird „Wanimeli“ herbeigerufen, um in einem traditionellen Initiationsritus die jungen Männer der Dorfgemeinschaft zu tatuieren. Mit dem Verheilen der Narben, die der Oberflächenbeschaffenheit des Krokodils entsprechen, ist der geschlechtsreife Jugendliche in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen. Er wird in die mythischen Geheimnisse der Stammessitten eingeführt und erhält mit seinen Tatuierungen Zugang zum geheimen Teil der kulturellen Tradition seiner Gemeinschaft.

Auch die Gesichts- und Körpertatuierungen der Maori auf Neuseeland sind keine individuellen Ornamente, sondern überlieferte Zeichen, die fest in der Kulturtradition verankert sind. Die komplexen Linien, Kurven und Spiralen der Gesichtstatuierungen werden mit einem Meißel in die Haut eingebracht und fixieren die individuellen Gesichtszüge seines Trägers zu einer unveränderlichen Maske. Als die ersten europäischen Kolonialisten in Neuseeland anlandeten und mit den Stammeshäuptlingen in Verhandlungen über Land und Waffen traten, entwickelte sich unter den Stammesführern die Praxis, exakte Kopien ihrer Gesichts-Tattoos als Unterschrift unter Verträge zu setzen. Te Pehis, ein Maori, der 1826 in England Aufsehen erregte, kommentierte seine ohne Hilfe eines Spiegels erstellte Gesichtszeichnung mit den Worten: „Der Europäer schreibt seinen Namen mit einem Stift, Te Pehis Name ist hier.“

Mit den Südseereisenden des 18. und 19. Jahrhunderts hielt die Kunst des Tatuierens Einzug in Europa. Die Seeleute brachten die Hautzeichnungen, deren mythischer Urspung ihnen meist unbekannt war, in einen Kulturraum mit, in dem die Unversehrtheit des Körpers unumstößliches Gebot war: „Ihr sollt keine Mal an eurem Leib reißen noch Buchstaben an euch ätzen, denn ich bin der Herr“, steht im 3. Buch Mose, 19,;28.

Die Tatuierung, von den englischen Heimkehrern zu „Tattoo“ verballhornt, wurde somit in Europa vor allem zum Zeichen des gesellschaftlichen Protestes. Fahrensleute, Nichtseßhafte, Drop- Outs grenzten sich – sichtbar – vom christlichen Sittenkodex ab. Die Tätowierung, in der Südsee ursprünglich ein fester kultureller Bestandteil der sozialen Dorfgemeinschaft, geriet in Europa zum individuellen Protestsymbol, das – von den moralischen Sittenwärtern entsprechend gefürchtet – gesellschaftlich geächtet und aufs schärfste bekämpft wurde. Gleichzeitig entstanden in den sich ausdifferenzierenden europäischen Motiven Verbindungen zwischen der importierten heidnischen Symbolik auf der einen Seite und den heimischen christlichen Zeichen auf der anderen. Das Kruzifix auf dem Oberarm des Seemanns wurde zwischen allen heidnischen Mitbringseln aus der Südsee zum Indiz für christliche Religiösität. Der Matrose konnte somit auch in der gottlosen Ferne mit einer katholischen Seebestattung rechnen.

Auch heute noch dominieren in der klassischen Zeichensprache der Tattoos die drastischen Symbole aus dem neunzehnten Jahrhundert: Die nackte Jungfrau wird als Zeichen virtueller Männlichkeit verstanden, der wilde Drache ist eine Reminiszenz an die japanische Kampf-Tradition, der kämpfende Löwe oder der springende Panther ein Ausdruck männlicher Potenz. In bürgerlichen Kreisen werden diese Motive immer noch als Ausdruck gewalttätiger oder sexistischer Grundhaltungen gedeutet, den Trägern der martialischen Motive haftet so auch heute noch das alte Stigma des Ausgegrenzten an. Warum sonst hätten die „Lindenstraßen“- Bewohner den Serien-Bösewicht Robert Engel mit der Tätowierung einer Ratte bestrafen sollen? Die Tattoo – das moderne Kainsmal.

Mit Erfindung der elektrischen Tätowiermaschine vor nunmehr hundert Jahren wurde die Motivfülle größer und prächtiger. Die modernen Stichel sind mittlerweile kaum größer als ein Kugelschreiber, sie machen mit ihrer Exaktheit des Farbauftrags kunstvolle Bilder möglich. Fingerfertige Free-Hand-Tätowierer befriedigen die Bedürfnisse ihrer Kunden nach individuellen Zeichnungen, mit denen sie sich aus der Masse herausheben können. Die chemische Industrie hat zudem eine Marktlücke geschlossen, indem sie mittlerweile eine breite Palette nicht-toxischer Farben zur Verfügung stellt, die wesentlich leuchtender und haltbarer sind als das Tintengemisch vergangener Jahrzehnte. Somit können die Meister jetzt in die vollen gehen: Das Angebot reicht von gruselig-grünen Riesenkraken über niedliche Gremlins bis hin zu einem kitschigen Porträt von Mickey Rourke.

Inzwischen wurden auch gesellschaftliche Kreise auf die Tattoo- Kunst aufmerksam, die mit den Outlaw-Motiven der Rocker und Fahrensleute nichts gemein haben. In den Tattoo-Zentren San Diego, Amsterdam oder New York haben sich mittlerweile Star-Tätowierer etabliert, die ihre Arbeit auf der Haut durchaus als Kunst begreifen. Zu ihren Kunden gehören Rechtsanwälte und Ärzte, Jungmanager und auch eine Reihe prominenter Schauspieler und Popstars. Man orientiert sich wieder mehr an den ursprünglichen Wurzeln, bereist die Südsee und den japanischen Kulturraum, um dort Inspiration für moderne Ganzkörper-Tattoos zu finden, die das Muskelspiel des Körpers in die Ornamentik integrieren. Das Kunstwerk definiert sich so plötzlich zweifach, wird zum Zusammenspiel von Körper und Ornament. Sein Träger ist nicht mehr nur Besitzer, sondern Teil des Kunstobjekts.

Auf den vielen regionalen Conventions, die mittlerweile in fast allen größeren Städten Europas alljährlich stattfinden, teilt sich die Szene sowohl auf Seiten der Anbieter als auch unter den Kunden in zwei Lager. Da gibt es vor allem die der Tattoo-Sucht Verfallenen: Immer wieder suchen sie nach noch freien Flächen auf der Haut, um sich einen dritten Drachen, eine fünfte zischelnde Schlange tätowieren zu lassen. Aus den vereinzelten Motiven auf Rücken oder Brust, die die Studios in Serie als Schablonen anbieten, wird mit den Jahren ein buntes Gesamtkunstwerk – meist von vielen verschiedenen Tattoo-Künstlern, bis dann ein Free-Hand-Meister die letzten Lücken schließt.

„Mein Körper ist mein Tagebuch“, erklärt eine lang aufgeschossene Brünette und zeigt mir stolz ihre recht martialisch bebilderten Oberschenkel. Wollte man diese Aussage wortwörtlich nehmen, die Dame müßte auf ein grauenvolles Leben zurückblicken. Aber die traditionelle europäische Tattoo-Kunst lebt sehr vital mit den Symbolen der Vergänglichkeit: zähnefletschende Totenköpfe und blutrünstige Fabeltiere sind in diesem Kontext nicht mehr – aber auch nicht weniger – als ein Ausdruck der Unveränderlichkeit dieser Kunst. „Es hat eben etwas mit Ewigkeit zu tun“, erklärt auch Detlef, ein junger Schlagzeuger, dessen Bruststück ein surfendes Skelett darstellt. Auf seinem Rücken dominieren drei große Drums das Wirrwar aus kleinen und großen Zeichnungen. Und natürlich werden auch die Trommeln von einem Knochengerüst gespielt. Obwohl er seine ersten pieces schon seit mehreren Jahren hat, erinnert sich Detlef noch an jede Situation, in der er zum Tätowierer ging. Zu jedem Motiv, jedem Strich, fällt ihm ein Teil seiner Lebensgeschichte ein. Die andere Kundengruppe ist weitaus schwieriger zufriedenzustellen. Für sie soll es ein ganz persönliches, free-hand gezeichnetes Bild sein – ein Unikat eben. Benedikt reiste eigens von Berlin nach Kassel, um sich von der TattooMeisterin Carola seinen Phantasievogel auf die Brust tätowieren Fortsetzung auf Seite 16

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zu lassen. In keinem der Berliner Studio sagte ihm „der Strich“ zu. Zurück aus Kassel stand der junge Tänzer lange vor dem heimischen Spiegel und beäugte Carolas vorläufigen Tuscheentwurf von allen Seiten, bevor er ein zweites Mal nach Hessen reiste, um die Zeichnung endgültig in die Haut arbeiten zu lassen. Seit einem knappen Jahr gehört nun auch Benedict dazu, ist er in den Kreis der Gezeichneten aufgenommen. Mit seiner Tattoo ist er immer noch hochzufrieden. Trotzdem soll es die einzige bleiben.

Am Ende des ersten Conventiontags hat auch Anna endlich jemanden gefunden, der für ihre Lilie einen schönen Entwurf gemacht hat. Ein bißchen Angst vor den Schmerzen hat sie schon, als die Tattoo-Nadel zu surren beginnt. Aber nach fünf Sekunden entspannen sich Annas Gesichtszüge wieder. Es sei kurz davor, angenehm zu sein, verrät sie mir, und setzt lachend hinzu: „Dabei habe ich sonst ein durchaus normales Liebesleben!“ Schmerzhaft wird die langwierige Prozedur nur noch an den sensiblen Stellen, den Innenseiten von Oberarmen oder Beinen, am Hals und in der Schamgegend. Gesichts-Tattoos sind unter den Profis weitgehend tabu. Jede Tätowierung sollte immer noch unter der Kleidung verschwinden können, ist die übereinstimmende Meinung der Meister.

Um so mehr wird in Berlin der Hamburger Klempner Andi bestaunt. Er ist auch auf Stirn und Wangen mit Ranken und Ornamenten übersät und läßt sich als gutgelauntes Kuriosum bereitwillig von den Zeitungsfotografen ablichten. Die bestaunte Tattoo ist eine recht ordentlich ausgeführte Arbeit seines Freundes Peter. Zusammen haben die beiden sich Stück für Stück eine komplette Tätowierungsausrüstung gekauft. Nun beackern sie gegenseitig ihre Haut – „nur so zum Spaß!“

Seine Kollegen auf dem Bau haben sich mittlerweile an Andis Hobby gewöhnt, nur die Architekten gucken gelegentlich etwas konsterniert. Während es in der BRD keine gesetzliche Regelung über Tattoos gibt, waren die bunten Bilder in der DDR gesetzlich verboten. Eine in Bautzen heimlich eingeritzte Gesichts-Tattoo wurde so ein sicherer Freifahrtschein in den gelobten Westen. Solchermaßen gezeichnete kriminelle Elemente wollte der Honecker-Staat so schnell wie möglich loswerden.

Am Ende der Berliner Convention laufen in der Halle so viele verbundene Gestalten herum, daß man meinen könnte, man sei auf einer Erste-Hilfe-Station des Roten Kreuzes. Die frisch gestochenen Bilder werden mit einer antiseptischen Creme versorgt und dann unter Frischhaltefolie vom Aldi luftdicht verpackt. Das Motiv verschorft so ganz langsam in den nächsten Tagen, die Haut kann sich wieder beruhigen, die kleinen Wunden schließen sich. „Wenn es mit dem Jucken losgeht, ist alles o.k.“, erklärt Armin, der es wissen muß. Er hat soeben den zweiten Preis in der Kategorie „Big Man of Tattoo“ entgegengenommen, auf seinem dichtbehaarten Unterbauch prangt eine lasziv lächelnde Marilyn. Armin arbeitet selbst in einem Frankfurter Tattoo-Studio, die Convention ist für ihn ein einträgliches, wenn auch hektisches Geschäft. „Hand aufs Herz“, raunt er mir zu, als er am Sonntag abend nach drei Tagen Non-Stop-Tattooing endlich sein Equipment zusammenräumen kann, „Aids-Handschuhe hin oder her. Ich würde mich nie auf einer Convention tätowieren lassen. Viel zu hektisch, und dann die Sache mit der Hygiene...“ Seine Kunden stört's nicht, für sie hat mit diesem Tag eine neue Zeitrechnung begonnen. Ab heute gehören sie in den Kreis der Gezeichneten.