: Höflichkeitsfloskeln im Flugzeug
■ Alltag in den besetzten Gebieten. Der palästinensische Autor Said Aburish versucht, sich dem Aufstand von unten zu nähern
Seit sich die Palästinenser in den sechziger Jahren ins Bewußtsein der Weltöffentlichkeit bombten, werden wir fast täglich mit Meldungen konfrontiert, die von Raketenanschlägen auf Israel, Anschlägen auf israelische Einrichtungen und Personen im Ausland, Ermordung israelischer Zivilisten und Soldaten in den von Israel besetzten Gebieten sowie von Entführungen aus dieser Konfliktregion berichten. Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auch von seiten Israels wird seit der Besetzung der Westbank und des Gaza-Streifens vor 25 Jahren massivst in das Leben der Palästinenser eingegriffen. Um so erfreulicher ist es, daß mit dem Buch des palästinensischen Schriftstellers und amerikanischen Staatsbürgers Said Aburish ein in Palästina Geborener zum Schicksal seines Volkes spricht, ohne in allzu grobe Schwarzweißraster zu verfallen.
Aburish, der in London lebt, gehört zu einer der angesehensten und einflußreichsten Familien des Ortes Bethanien. Schon die Anreise ist Annäherung und Getrenntsein zugleich: Der Autor berichtet einleitend von einer Begegnung mit einer Israelin im Flugzeug, die exemplarisch für die Sprachlosigkeit zwischen beiden Seiten stehen könnte. In der Luft noch tauscht man Höflichkeitsfloskeln aus. Das Gespräch verstummt just in dem Augenblick, als das Flugzeug auf dem Ben-Gurion- Flughafen in Tel Aviv landet. „Sie geht, ohne sich zu verabschieden.“
In dreizehn Kapiteln beschreibt der Autor den Alltag der Palästinenser. Die israelische Seite wird einzig in Form der Anwältin Lea Tzemel gewürdigt, die mit einem unbeschreiblichen Einsatz Palästinenser vor israelischen Militär- und Zivilgerichten verteidigt. Sie steht stellvertretend für „das andere“ Israel. Hätte sich Aburish aber nicht doch intensiver auf die israelische Gesellschaft einlassen sollen, um zu erfahren, wie die andauernde Besatzung auch sie spaltet? In einem abschließenden Teil setzt sich Aburish kritisch mit den Mißständen innerhalb der palästinensischen Gemeinschaft auseinander.
Ausführlich beschreibt Aburish die Arbeitsweise der Militärgerichte in den besetzten Gebieten. Ihr Procedere widerspricht rechtsstaatlichen Grundsätzen, meint auch Lea Tzemel, die die „Rechtsgültigkeit von Gesetzen“ kritisiert. Israel wendet in den besetzten Gebieten ein Konglomerat von Gesetzen aus der osmanischen, britischen und jordanischen Besatzungszeit plus eigenen – rund 1.400– Militärverordnungen an. Die Kette der Menschenrechtsverletzungen ist bekannt: Zerstörung oder Versiegelung von Häusern, die Enteignung des Landes aus „sicherheitspolitischen“ Gründen, die Trennung von Familien. Lea Tzemels Motivation ist denn auch, „die Rechtmäßigkeit der Besatzung und ihrer Methoden anzufechten, damit das aufhört, was die Zionisten den Arabern antun“.
Said Aburish macht im folgenden der palästinensischen Elite den Vorwurf – etwa auch sich selbst? –, sich von den Interessen der einfachen Menschen entfernt zu haben. „Was die Aussagen der Intifada-Kinder und ihrer Mütter in politischer, religiöser und soziologischer Hinsicht bedeuten, ist klar. Sie identifizieren sich mit dem Kampf zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen. Sie betrachten sich als die Vorhut einer Revolution gegen die alte Ordnung, sowohl im Westjordanland als auch in der gesamten arabischen Welt, und die Älteren als eine Generation von Verrätern.“ Wäre von einer solchen Revolution nicht auch die Dynastie der Aburishs betroffen? Dennoch sieht er Hoffnung in den Kindern der Intifada, „die den Schlüssel zur Zukunft besitzen“ und bei der kleinsten Gelegenheit „Änderungen in der PLO durchsetzen“ würden. Sind sie aber wirklich die Berufenen? Hat nicht gerade unter ihnen eine Verrohung stattgefunden?
Vielen Israelis wird die Sichtweise Aburishs nicht passen, und sie werden auf die Verbrechen der Palästinenser verweisen, die gegenüber Israel begangen worden sind. Sie werden auch sagen, daß bisher rund 700 Morde allein unter den Palästinensern wegen angeblicher Kollaboration verübt wurden. Und einen Mord rechtfertigt nichts. Dies zu benennen wurde von Aburish tragischerweise versäumt. Haben dadurch jedoch die Palästinenser schon ihr Recht verwirkt, die Menschenrechtsverletzungen durch Israel aufmerksam zu geißeln? Die Gewaltspirale hat verheerende Auswirkungen auf die politische Kultur sowohl des Staates Israel als auch die der palästinensischen Gemeinschaft. Je länger die Besatzung dauert, desto stärker leidet das Image Israels und desdo fraglicher scheinen friedliche Lösungen. Ludwig Watzal
Said K. Aburish: „Schrei Palästina! Alltag auf der Westbank“. Knesebeck, 1992, 247 S., 32 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen