Vom Mut zur Lücke in der Identität

Der türkische Autor Safer Senocak entwirft ein Bild der kulturellen Geographie Deutschlands und diskutiert die Voraussetzungen für eine wirkliche multikulturelle Gesellschaft  ■ Von Thomas Schmid

Noch vor wenigen Jahren hatte der Begriff der multikulturellen Gesellschaft eine utopische Konnotation, inzwischen ist er in allen politischen Parteien salonfähig geworden. Eigentlich beschreibt er ja bloß – so wird nun allenthalben ernüchtert festgestellt – den Zustand der Normalität in Deutschland: Es gibt nun eben einmal eine Vielfalt von Kulturen auf deutschem Boden. Wir müssen sie nur akzeptieren, ihnen das Recht auf eigenen Ausdruck zugestehen. Toleranz, gegenseitiges Verständnis, guter Willen sind gefragt.

Wo für den Sonntagsredner das Problem endet, beginnt Zafer Senocak mit seinen Fragen: Was fühlten die Türken bei den Klängen der deutschen Nationalhymne, als das Brandenburger Tor aufging? Weshalb gibt es nicht in jeder deutschen Großstadt eine zentral gelegene, repräsentative Moschee und weshalb keinen muslimischen Friedhof? Weshalb steht in Deutschlands Schulen die umfassende Vermittlung von Kenntnissen in Kultur, Sprache, Religion, Geschichte und Literatur der größten Minderheit des Landes auf keinem Lehrplan?

In seiner unter dem Titel „Atlas des tropischen Deutschland“ erschienenen Textsammlung sucht der deutsch schreibende türkische Lyriker und Essayist den deutschen Leser für die Probleme der Minderheiten zu sensibilisieren. Doch er richtet sich immer wieder auch an die eingewanderten Ausländer und fordert sie auf, gegenüber ihrer Herkunftskultur „einen bestimmten Grad an Eigenständigkeit und dadurch Wandlungsfähigkeit und Flexibilität“ zu erreichen, um existieren zu können: „Die türkische Jugend darf sich nicht an die Phantasmagorie der verlorenen Heimat klammern.“

Senocak, 31, im Alter von neun Jahren aus Ankara nach Berlin gekommen, Einwanderer der zweiten Generation also, plädiert gegen Abgrenzungen und für eine „Atmosphäre, in der sich Fremdheit und Vertrautheit ständig berühren, um Neues wachsen zu lassen. Ein Prozeß, der lustvoll sein kann, aber ebenso schmerzhaft ist, wie an Wunden zu reiben.“ Jede Kultur ist schließlich in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen entstanden und verändert sich weiter in der Reibung mit diesen. Das heißt, die Deutschen müssen begreifen, daß es nicht genügt, fremde Kulturen zu akzeptieren, sie müssen auch akzeptieren, daß sich ihre eigene Kultur mit der Ankunft von Millionen von Immigranten verändert hat, verändert und weiterhin verändern wird.

Es geht also nicht nur um die Identitätsfindung entwurzelter türkischer Jugendlicher, die „ihre“ Sprache nicht mehr verstehen und die tradierten Gepflogenheiten „ihres“ Kulturkreises zurückweisen, es geht auch um eine neue Identität von urdeutschen Eingeborenen. Sie wird Lücken aufweisen müssen, postuliert Senocak, durch die das andere, das Fremde ein- und ausgehen kann.

Jahrhundertelang verteufelte die abendländische Kultur die morgenländische, der sie bekanntlich das Wissen über ihre eigenen Ursprünge zu verdanken hat. Für Papst Innozenz III. war Mohammed das „Tier der Apokalypse“, für Dante ein „ewiger Höllenbewohner“, für Goethe „finster und glühend rachsüchtig“ und für Herder gar „mit häßlichem arabischen Kamelunrat umpflanzet“.

Nun muß sich Deutschland mit der Existenz von zwei Millionen Menschen muslimischer Herkunft auseinandersetzen. Senocaks Atlas hilft die Probleme in einer Landschaft zu orten, die vielen Deutschen so fremd, so exotisch, so tückisch und so gefährlich wie die Tropen scheint. Er warnt davor, die Verteufelung des Fremden durch dessen Glorifizierung zu ersetzen. Beides sind letztlich Abwehrmechanismen, erleichtern die Betrachtung des anderen als Projektionsfläche für Sehnsüchte und die eigene Unschuld, blockieren also die Veränderung des eigenen Bewußtseins.

Selbst da, wo man Senocaks Ausführungen schwerlich folgen mag, wie etwa bei seinen Betrachtungen über die Rushdie-Affäre, wo er den westlichen Intellektuellen vorwirft, im gewohnten Muster des Schuldkomplexes zu reagieren, oder bei seinen Reflexionen über Geschichte und Schuld Deutschlands, sorgt der türkische Essayist mit seinem virtuos beherrschten Perspektivenwechsel für erhellende Überraschungen. Seine Sammlung von Essays, von denen einige gekürzt schon in der taz erschienen sind, möchte man all jenen unter den Weihnachtsbaum legen, die noch nicht begriffen haben, daß ohne die Abkehr von einer völkischen, letztlich rassistischen Festlegung der deutschen Staatsangehörigkeit, ohne die Ablösung des ius sanguinis durch das ius solis, die Integration, nicht Assimilierung, von Millionen von Immigranten unmöglich ist.

Erst wenn Senocak kein türkischer Schriftsteller mehr ist, sondern ein deutscher Schriftsteller türkischer Herkunft, erst wenn ein Türke oder eben ein Deutscher türkischer Herkunft in der Oper kein Aufsehen mehr erregt und wenn Herr Meyer und Frau Müller es nicht mehr anstößig finden, daß ihre Tochter mit ihrem arabischen Freund oder dem deutschen Freund arabischer Herkunft im Sofa der guten Stube sitzt und fernsieht, verdient eine multikulturelle Gesellschaft diesen Namen.

Bis dahin tun wir gut daran, weiter im Fremden das Eigene und im Eigenen das Fremde zu erforschen, auch wenn es uns schwerer fällt als dem heimatlosen kosmopolitischen Geographen.

Zafer Senocak: „Atlas des tropischen Deutschland“. Babel Verlag, Berlin, Dezember 1992, 101Seiten, 19,80 DM