■ Das Wort des Jahres und seine Anlässe
: Umschreibung eines Brechreizes

Politikverdrossenheit – Das Wort des Jahres 1992, die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat es gefunden. Kein unverbindliches wie einst „Begrüßungsgeld“ oder „Fünf Neue Bundesländer“. Für schöne Worte ist zwei Jahre nach der Wiedervereinigung kein Anlaß mehr. „Politikverdrossenheit“ also – die Sprachforscher suchten dafür wohl eher zwischen den Zeilen. Das Wort selbst findet sich gar nicht so häufig in unserem Alltag, die Anlässe dafür um so mehr.

Anlässe wie diese, von den Fernsehnachrichten der letzten Tage direkt auf das Verdrußkonto überwiesen: Auftritt die Justizministerin, in kuscheligem Pelz und in Warschau. Den polnischen Gesprächspartnern habe sie versichert, Deutschland werde sie mit den zurückgewiesenen Asylbewerbern nicht alleinlassen. Polen bemühe sich aufrichtig um eine Asylregelung analog zur Genfer Flüchtlingskonvention. Ein Tag später die Nachricht: Polen macht die Grenze für Rumänen und Bulgaren faktisch dicht. Asylfreie Zone bis zum Ural.

Abendnachrichten, Geldregen auf das Verdrußkonto: die Sparpläne der Bundesregierung, ein sozialpolitischer Amoklauf, Lektion1 aus der Fibel der Kapitalismus-Kritiker: Gespart wird immer bei den Kleinsten der Kleinen, die Großen zocken weiter ab. Folgenachricht: Der Jäger90 ist auferstanden, er heißt jetzt nur anders und ist ein paar Heller billiger. Morgennachrichten: Den Bonner Politikern passen die Berliner Alt(last)bauten nicht. Die für die Ministerien vorgesehenen Gebäude im Osten wie etwa der Palast der Republik oder das Treuhandgebäude sollen deshalb abgerissen werden. Wir haben's ja.

Mittags Zeitungslektüre: Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über den 218 – ohne allerdings zu ahnen, daß die Bundesregierung längst die Verhandlungsgrundlage aufgekündigt hat: Die sozialen Abfederungen der Neuregelung fallen unter den Tisch, der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wird gänzlich gekippt, das Erziehungsgeld drastisch gekürzt.

Abendnachrichten: das Verdrußkonto platzt: Innenminister Seiters schickt Bundeswehrsoldaten zur „Asylantenabwehr“ an die Oder-Grenze. Ein solcher Einsatz im Landesinneren ist der Bundeswehr zwar strikt verboten, aber Gesetzesschranken lassen sich per Umdefinition brechen: Die Bundeswehrsoldaten werden für ihren „Osteinsatz“ beurlaubt. Urlauber sind keine Soldaten.

„Politikverdrossenheit“ – Wort des Jahres und doch nur vornehme Umschreibung von „Es ist alles zum Kotzen“. Und von diesem Gefühl ist es bei einigen Leuten nicht weit zu dem Wort, das auf Platz2 der Hitliste der Sprachforscher steht: „Fremdenhaß“. Vera Gaserow