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Zucker-Mandel-Mäuse-Schwanz

■ Tschaikowsky-Trilogie, erster Teil: „Der Nußknacker“ in der Deutschen Oper

Zunächst der Last-Minute-Geschenktip für alle Leute, die Mäuse mögen. Das Lieblingsbilderbuch für die ganze Familie heißt bei uns „Viele Mäuse sind versteckt, wer hat sie zuerst entdeckt?“ und wurde gemalt von dem holländischen Kinderbuchillustrator Peter Stevenson. Darin wimmelt es, wie gesagt, von Mäusen, die man nicht sofort sieht. Zum Beispiel im Musikzimmer: Man muß erst eine Schranktür öffnen und den Klavierdeckel hochklappen, dann das Bandonion auseinandernehmen und ins Kofferradio gucken. Voilà: Schon ist es vorbei mit der Sonntagsruhe, und die Mausbigband schlägt zu. Dabei sehen die Mäuse zwar zum Fressen süß und sehr musikalisch aus, aber sie haben alle einen diabolisch langen nackten rosa Rattenschwanz.

Die Ouvertüre zu Tschaikowskys „Nußknacker“-Ballett klang bei der Premiere am Freitag abend in der Bismarckstraße ziemlich mäusemickerig. Das ist ganz normal, so klingt sie immer, das gibt sich später. Aber sofort, als sich der Vorhang hob, da wußten wir: Endlich sind wir mal im richtigen Bilderbuch gelandet! Ein Wohnzimmer mit Weihnachtsbaum und Onkels und Tanten, die Kinder geputzt und aufgeregt, alles wie gemalt — selbst das Klavier stand schon da. Wir haben uns natürlich gleich auf die Suche nach den Mäusen gemacht. Und als wir sie gefunden hatten, da waren sie genauso rosaschnäuzig langschwänzig ekelhaft, genau so quiekig kannibalisch grausam, wie es in dem Märchen von E. T. A. Hoffmann geschrieben steht.

Auch sonst war alles exakt wie selbstgeträumt: ein Pate Drosselmeyer, der tatsächlich so zaubern kann, daß Menschen wie Mäusen nichts mehr geheuer ist; daß sich die Türen von selbst auftun, ein Schloß in den Himmel schwebt, der Weihnachtsbaum Glubschaugen kriegt und tote Sachen lebendig werden. Alsdann die kleine Marie, die bei Tschaikowsky Klara heißt, aber diesmal dramaturgiehalber in Tanja umgetauft wurde. Egal, sie hat jedenfalls ein gutes Herz, ein weißes Kleidchen an und kann an diesem speziellen Abend vor lauter Glück schon ein bißchen Spitze tanzen, beinahe wie eine richtige erwachsene Fee. Der Nußknacker schließlich, die Hauptperson: klein, rot und aus Holz. Der wächst erst nur einen knappen Meter hoch, um die Mäuseübermacht zu bekämpfen. Wächst dann weiter, und noch ein kleines Stück, und puff, schon steht ein weißglänzender Prinz vor der kleinen Marie und macht für sie große Sprünge.

Noch höher springt natürlich der Papa. Papas können alles, die können auch fliegen. Und die vornehme Frau Mama, ja genau, so war es immer schon: Die ist in Wahrheit eine kostbare, zerbrechliche Zucker-Mandel-Fee aus dem fernen, unnahbaren Land Konfitürenburg. Keine kann so künstlich wie sie Arabesken und Pirouetten vorführen, und die meisten Glasperlen, die längsten Beine hat sie sowieso. Das Schönste am ganzen „Nußknacker“ aber waren auch diesmal wieder die Puppen: Denn Puppen machen Ballett erst perfekt. Ansonsten braucht es stets das Quentchen Bereitschaft zum Kompromiß, weil kein Mensch im Ernst glauben mag, daß sich Menschen so affektiert und perfekt und wunderbar bewegen können.

Peter Schaufuss hat choreographiert und sich, beraten von Ole Norlyng, eine neue Dramaturgie für den „Nußknacker“ ausgeknobelt, die das Stück als biographischen Seelenspiegel des alternden Peter Tschaikowsky begreift. Aus diesem Grund sind ein paar zusätzliche Musikstücke (Kinderalbum op. 39, Opernentwurf „Der Wojwode“) hineingeflickt und eine Menge Nummern umgestellt worden. Das stört aber nicht weiter — wer will, kann das Konzept hinterher im Programmheft nachlesen. Zuallererst kommt das Vergnügen. Wobei unbedingt hervorzuheben sind — außer dem Papa-Kavalier (Martin James) und der Mama-Fee (Christine Camillo): die Mause-Kinder, die Ratten also, aus der Berliner Tanzakademie und der Ballettschule Gelvan. Ihnen allen sei hiermit herzlich gedankt für ihre zuckermandelmäuseschwänzigen Tanzkünste sowie dem Ausstatter (Peter Sykora) dafür, daß er die Mäuse so prima versteckt und dem Stück insgesamt so beherzt altmodische, beinahe schon früh-Disney-klassische Kleider und Mienen verpaßt hat. Zum guten Schluß hier nun mein zweiter und ultimativer Last-Minute- Geschenk-Tip: ein Gutschein für diesen „Nußknacker“. Elisabeth Eleonore Bauer

„Der Nußknacker“. Ballett in zwei Akten von Peter Tschaikowsky. Bühne und Kostüme: Peter Sykora. Musikalische Leitung: Peter Ernst Lassen. Deutsche Oper Berlin: 25. Dezember 92 sowie 1./2./9./16. Januar 93.

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