■ Scheibengericht: Offenbach, Les Contes d' Hoffmann
Wer, bevor er überhaupt etwas gesagt hat, sagt: „Um die Wahrheit zu sagen... “, der lügt höchstwahrscheinlich. Die Wahrheit liegt im Brunnen, sagt die Muse im ehrlich echten Prolog der ehrlich echten Fassung von Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“, die jetzt von Jeffrey Tate mit der Dresdner Staatskapelle, dem Leipziger Rundfunkchor und großer Besetzung eingespielt worden ist. Samuel Ramey singt dabei sämtliche schwarzbassigen Bösewichter, was allein beinahe ausreichte für eine Medaille. Er singt aber die tolle Diamantenarie des Dapertutto nicht so, wie man sie kennt und liebt, sondern ganz anders: kürzer, wie ein Couplet. Das gibt natürlich sofort Punktabzug, bloß: dafür kann Ramey nichts.
Schuld hat der Musikwissenschaftler Michael Kaye, der sich bildlich und schriftlich im halbpfundstarken Booklet vorstellt als der Herausgeber der ultimativen Edition von „Hoffmanns Erzählungen“ und akribisch Auskunft gibt über die verwickelte, widersprüchliche Aufführungsgeschichte dieser Oper. Kaye berücksichtigt dabei sämtliche, auch die erst 1984 bei einer Sotheby's-Auktion ans Licht gekommenen Offenbachschen Hinterlassenschaften. Was aber nichts an der Tatsache ändert, daß das Stück unvollendet ist und bleibt. Kaye selbst bedauert sehr: „Da Offenbach vor der Beendigung der Oper starb, kann leider keine Aufführungsfassung von Hoffmanns Erzählungen als definitiv gelten. Auch ist die vorliegende Aufnahme nicht die klingende Wiedergabe meiner gesamten Edition.“
Ja, das ist aber bestimmt auch besser so. Wo kämen wir denn hin, wenn immer alles mitgesungen und mitgespielt werden sollte, was die Sammler und Historiker so posthum an Skizzen und Entwürfen ausgraben. Beethovens Sinfonien zum Beispiel, nach den Skizzenbüchern alternativ in zwei oder drei feindlichen Fassungen nacheinander – das wäre doch ein Alptraum. Und außerdem, wie Mozart (der klug genug war, keine Skizzen zu hinterlassen) einmal so richtig schrieb: „Gemeynt und geschissen ist zweyerlei.“ Was ein Komponist geplant und gewollt haben mag, ist das eine. Das Werk und seine Aufführungsgeschichte ein anderes. „Hoffmanns Erzählungen“ zum Beispiel sind, in der wieder einmal als falsch entlarvten durchkomponierten Guiraud-Fassung, längst Repertoire geworden; mehr noch: ein abgesunkener Mythos, tief eingegraben in den Komposthaufen allgemeiner Kulturgüter. Zwar ist gut zu wissen, daß die Geschichte lügt. Aber gut gelogen ist doch manchmal schöner als recht oder schlecht die Wahrheit gesagt.
Die gesprochenen Dialoge der neuen Hoffmann-Einspielung sind genauso lästig wie der Absturz ins Wort es bei Opern immer ist. Sie sind vor allem, samt den künstlich produzierten Bühnengeräuschen, für eine Platteineinspielung zu laut und zu lang. Der neue Anfang von „Hoffmanns Erzählungen“ aber oder das neue Ende des Giuletta- Akts (der hier wieder am Schluß steht), läßt sich schon eher hören. Was sowohl an dem wunderbaren Ramey (Dapertutto) liegt wie auch an dem kernig dramatisch musizierenden Tate und an Cheryl Studer (Giuletta) der Wandelbaren. Leider leicht knödelig: Francisco Araiza (Hoffmann). Macht auch nichts: bei diesem neuen Aktschluß muß er sowieso nicht singen, den gibt's als Melodram.Philips 422 374-2
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