Becketts Gedächtnisfilm fürs Ohr

■ Ein später Prosatext von Samuel Beckett im Radio: „Worstward Ho“, heute 20.15 Uhr, Kulturwelle SFB3

Natürlich war Samuel Beckett nicht begriffsstutzig – auch wenn es seiner Mutter May gelegentlich so vorkommen mußte. Wie aber hätte sie ahnen können, weswegen ihr heute gefeierter Sam sich derart konsequent seinem Berufsglück entzog? Zwar ist sich heute die Fachwelt mit Edward Albee darüber einig, daß jeder von Beckett unbeeinflußte Theatermacher entweder „a damn fool or irresponsible“ ist.

Doch in den dreißiger Jahren sah es für den jungen Englisch-Dozenten an der renommierten Pariser Ecole Normale Supérieure noch gar nicht rosig aus: Der einst so vielversprechende akademische Senkrechtstarter hängte nicht nur seinen Professorenjob an den Nagel, er war auch noch wählerisch in Sachen literarische Aufträge und mit seiner Brotarbeit als Übersetzer.

Schon für den Vierundzwanzigjährigen galt nämlich die ehrenhafte Devise, lieber nicht zu schreiben als nichts zu schreiben! Arme Mrs. Beckett! Wie hätte sie wissen sollen, daß ihre Versuche, den verlorenen Sohn zu managen, nicht nur qualvoll für alle Beteiligten, sondern schlichtweg überflüssig waren? Denn er war ja schon auf dem Weg des Erfolges, als er sich schwor, der literarischen Sprache, so wie sie bis dato gepflegt wurde, den Garaus zu machen: „Hinfällig wie ein Biedermeier-Badeanzug“ mußte die normale Syntax durch eine tonale Komposition ersetzt werden. Eine, die der von „schwarzen Pausen zerfressenen“ Tonoberfläche der Siebten Symphonie von Beethoven gleichkäme.

Bezeichnend für Beckett ist, daß er während seines langen Lebens stets auch außerliterarischen Medien zugeneigt war. Gut zwanzig Jahre nach seinen Anfängen als Schriftsteller brachte Beckett das Hörspielstudio der BBC ins Rotieren: Sein Skript „Alle, die da fallen“ umfaßt so viele unterschiedliche Hörebenen und einen unerschöpflichen Geräuschefundus, daß on the spot ein Ton-Workshop ins Leben gerufen wurde. Die endlosen Variationen der alten Hörspielkonzeption „Wir hängen ein Mikrophon ins Theater“ landete somit endgültig in der Mülltonne.

Und Martin Essling, ein bedeutender Beckett-Forscher und Grandseigneur des BBC-Hörspiels, beteuert, was wir gerne glauben wollen: daß nach Becketts Einfluß auf die ehrwürdige britische Radiokunst so bedeutend war wie die auf den übrigen literarischen Betrieb. Aber die Medien – Hörfunk und später Fernsehen – hinterließen ihrerseits Spuren in der Struktur von Becketts literarischen Texten.

So ist es also nur konsequent, daß der SFB mit einer radiophonen Lesung des späten Prosatextes „Worstward Ho“ dessen kompositorische Qualität nachvollziehbar macht. Gerade weil das Mikrophon die Ohren des Publikums auf die Innenwelten der Figuren richten kann, eignet sich das Radio hervorragend für Becketts introspektive Gedächtnisfilme. Das ausgeklügelte linguistische Spiel mit den räumlichen Perspektiven der Handlungsfiguren ermöglicht Becketts Zuhörern den Einstieg in die Bilderwelt seines Spätwerks. „Worstward Ho“ spielt die Möglichkeiten der Sprachverdichtung ohne Verlust der Sinnlichkeit durch. Eine Sache, die Samuel Beckett sein Leben lang verfolgte. Wie gut für uns, daß er ein Dichter wurde. Gaby Hartel