■ Bei allen derzeit wichtigen Debatten wird falsch polarisiert
: Armleuchter gegen Kerzenhalter

Die Lichterdemos gegen Ausländerfeindlichkeit reißen nicht ab. Und was tut die kritische Linke? Ist sie halbwegs erleichtert, daß es doch noch ein demokratisches Aufbegehren gibt? Freut sie sich über die seit den Morden von Mölln umkippende Stimmung? Mitnichten. Voller Mißtrauen sticht sie ihre analytischen Nadeln ins verdächtige Objekt und entdeckt unterm Forscher-Mikroskop: religiöse Symbole, faschistoide Fackeln, den Wunsch nach Unschuld und – keine Reden. Freie Fahrt also für die Entschlüßler. Armleuchter gegen Kerzenhalter.

Deutsche bei Nacht, das kann nicht gutgehen, rufen sie sogleich und haben es im Nu entdeckt – das heimliche Einverständnis der Unpolitischen mit den Politikern. Der schändliche Asylkompromiß ist die Wahrheit, die hinter den Millionen Kerzen lauert. Ertappt, entlarvt, erledigt. Die Gefahr für das eigene Gemüt ist abgewehrt. Die Deutschen sind doch schlecht.

Wer nicht redet, wird interpretiert. Auch von den Optimisten. Sie streicheln die Demonstranten sanft und stellen sie aufs Podest. Endlich die lang vermißte Urgründung der BundesREPUBLIK Deutschland. Im Gegenreflex gegen die Rechtsextremen machen die Deutschen, nach dieser Lesart, ihre Französische Revolution.

Geht's nicht auch ein bißchen kleiner? Kann man nicht einfach die Aussage der Demonstrationen ernst nehmen, die schlicht heißt: „Egal, was uns sonst politisch eint oder trennt. Haß gegen Ausländer – nicht mit uns!“ Ich glaube, wir hätten es leichter, wenn wir endlich unser demokratisches Maß finden würden. Vielleicht kommen aus einer geschenkten Demokratie halt nur mittelmäßige, unheroische Demokraten. Man sollte beizeiten aufhören, jede größere politische Kontroverse in Deutschland unter dem Aspekt zu betrachten, ob die Deutschen nun moralisch sind oder unmoralisch, demokratietauglich oder nicht.

Bei allen wichtigen Debatten findet derzeit eine falsche Polarisierung statt. Bei der Zuwanderungsproblematik wird um den Artikel 16 gerungen und das Einwanderungsgesetz vergessen. Bei den Blauhelm- Einsätzen geht es nur um die Frage: Dürfen die Deutschen? Anstatt für den möglichen Einsatz der Bundeswehr die Demokratisierung der UNO einzufordern. Die Debatte über den neuen Energiekonsens droht sich schon jetzt um die Sofortigkeit des Ausstiegs aus der Atomenergie zu gruppieren, anstatt das Energiesparen in den Vordergrund zu stellen. Es ist immer dasselbe Prinzip: Ideologische Dispositionen der Achtziger verhindern vernünftige Lösungen für die Neunziger. Chancen werden nicht genutzt, wo Wahrheiten über die Deutschen statt Lösungen für Probleme gesucht werden.

Mustergültig betreibt das auch die SPD. Endlose Diskurse mit ihren linken Kritikern über globale Verantwortung, aber beim Verhandeln kein Einwanderungsgesetz in der Tasche. Lieber grundsätzlich als gründlich. Die SPD gewinnt aus der Höhe ihrer moralischen Erregung erst den richtigen Schwung zum totalen Umfallen. Die politische Energie von München wurde so in Bonn vergeudet. Das ist ein Argument gegen Bonn, aber nicht gegen München. Bernd Ulrich

lebt als freier Autor in Köln