Im Glashaus gelebt

Antidemokratisches oder nationalistisches Denken ist dabei, wieder salonfähig zu werden  ■ Von Helge Malchow

Wohl niemand kann sich in den letzten Wochen des Eindrucks erwehren, daß die öffentlichen Reaktionen auf die rassistischen Ausschreitungen etwas Hilfloses an sich haben. Die Reaktionen der politischen Klasse, der etablierten Kultur, der Kirchen und der Medien sind von einer lähmenden Uniformität und erschreckenden Wirkungslosigkeit. Gebetsmühlenartig werden Beschwörungsformeln („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) wiederholt, an die humanistischen Traditionen der deutschen Klassik erinnert und moralische Bekenntnisse abgelegt. Geradezu fahrlässig jedoch sind die gutgemeinten Hinweise auf die Bereicherung „unserer“ Kultur durch amerikanische Popmusik, griechisches Tsatsiki oder afrikanische Fußballgenies (Was ist, wenn Ausländer bei uns ankommen, die all das nicht zu bieten haben?) oder die Rechenkünste, mittels derer der Bevölkerung vorgehalten wird, daß „wir“ ohne „die Ausländer“ nie „unser Land“ hätten aufbauen können, die Renten durch die Überalterung „der Deutschen“ von jüngeren Ausländern bezahlt würden, die zudem noch die Drecksarbeit machen müßten und dergleichen mehr. Auch hier: Was ist, wenn wir es mit Ausländern zu tun bekommen, die nie in die Rentenversicherung eingezahlt haben oder nicht fleißig die Arbeitsplätze besetzen, die sonst niemand will (weil selbst die nicht mehr vorhanden sind)? Abgerundet wird das Ganze durch schwärmerische Behauptungen („Wir sind alle Ausländer“) vielgereister Intellektueller, die von denen, die sie erreichen sollen, zu Recht nicht geglaubt werden, schon weil das nötige Kleingeld fehlt.

Wie kommt es zu dieser gefährlichen Hilflosigkeit und Naivität, deren Konsequenz selbst noch in Thomas Gottschalks TV-Gespräch mit Schönhuber zu studieren ist? Einen Hinweis hat Dieter Wellershoff gegeben: Zwischen den Kreisen der Empörten und den Kreisen der Täter und Drahtzieher gibt es keine gemeinsame Sprache. Die Sprache der Demokraten ist lediglich geeignet, das eigene Lager zu mobilisieren (was kein Fehler ist), nicht jedoch, den bewußten Ausstieg zum Beispiel junger Neonazis aus dem offiziellen Diskurs rückgängig zu machen.

Im Gegenteil: Seine Schwäche ist willkommenes Argument für die eigene Stärke. Der eigentliche Grund aber liegt tiefer: Fast die gesamte heute an der Macht befindliche politische und kulturelle Klasse ist in einem Glashaus aufgewachsen und sozialisiert worden: Der eine Teil, die Älteren, hat die Idee der westlichen Demokratie und der universellen Menschenrechte in erster Linie als Kampfinstrument gegen den Kommunismus und/oder als beruhigenden, bequemen politischen Rahmen für einen vierzig Jahre währenden Anstieg von Wohlstand und materieller Sicherheit betrachtet. Die NS- Vergangenheit wurde verdrängt oder auf rituelle Erinnerungen an die Opfer reduziert. Die heute mehr und mehr an den Machthebeln sitzenden Vierzig- bis Fünfzigjährigen sind von der 68er-Renaissance traditionell linken Gedankenguts geprägt, aber auch ihr Antifaschismus, der wenigstens – wenn auch selbstgerecht – mit den verdrängten Kontinuitäten der Vätergeneration abgerechnet hat und eine tiefere Betroffenheit zeigte, leidet unter einem schwerwiegenden Defekt: Ihr Protest „gegen rechts“ ging immer gegen etwas Abwesendes, ein Phantom. Rechts gleich „irgendwie“ faschistisch. Die sehr verschiedenen Ströme antidemokratischen und nationalistischen Denkens in der deutschen Geschichte bis 1945, von denen die Nazi-Ideologie nur eine (anfangs unbedeutende) Spielart war, sind unbekannt und wurden nie wiederentdeckt wie etwa die „linken“ Klassiker der Vorkriegszeit von Benjamin bis Rosa Luxemburg.

Auseinandersetzungen mit Theoretikern der Gegenrevolution oder zum Beispiel der sogenannten Konservativen Revolution der Weimarer Republik, mit den Werken Ernst Jüngers, Carl Schmitts, Oswald Spenglers, des frühen Ernst von Salomon usw. haben in dieser Generation entweder gar nicht stattgefunden oder waren rein polemischer Natur. Das gilt selbst für die großen Debatten über Nietzsche und Heidegger, die im Nachbarland Frankreich (Derrida, Lacan usw.) zu einer Revolution des philosophischen Denkens führten, mit Fernauswirkungen bis in die jüngsten amerikanischen Debatten über kulturelle und politische Differenz, Ethnozentrismus und political correctness. Es ist selbst noch eine Spätfolge der Nazidiktatur, daß die europäische Moderne und ihre Nähe, oft sogar Faszination, zu den „Ungeheuern, die der Schlaf der Vernunft gebiert“ (das Irrationale, das Böse, die Gewalt, der Schock, der Traum, die Magie, der Körper), für große Teile des Feuilletons oder Politiker ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist (Heiner Müller ist die große Ausnahme unter den deutschen Autoren).

Diese Traditionen genau sind es aber, die Anschlußstellen in alle Himmelsrichtungen besitzen, auch in die Hölle des neuen Faschismus. Moderne Formen antidemokratischen Denkens von rechts kommen ohne alle nostalgischen Auschwitz-Revisionen aus, auf die zum Beispiel die intellektuelle Neue Rechte in Frankreich schon lange verzichtet hat. Aber auch in Deutschland hat in den letzten Jahren, fast unbemerkt vom Feuilleton-Mainstream, eine Wiederkehr solcher Denkansätze stattgefunden, antidemokratisches oder nationalistisches Denken ist dabei, wieder salonfähig zu werden: Im renommierten Matthes & Seitz Verlag in München, zu dessen Autoren Georges Bataille, Jean Baudrillard oder Theodor Lessing gehören, erschien bereits 1984 eine gegen die bundesdeutsche Linke gerichtete Anthologie unter dem programmatischen Titel „Zur Kritik der palavernden Aufklärung“, in der der Herausgeber Gerd Bergfleth formulierte: „Den entscheidenden Faktor der Linkswende (nach 1968, d. Verf.) aber bildete die zurückgekehrte deutsch-jüdische Intelligenz, die eine letzte Chance erhielt, Deutschland nach ihren weltbürgerlichen Maßstäben umzumodeln – ein Prozeß, der so vollständig gelang, daß für zwei Jahrzehnte von einem eigenständigen deutschen Geist (!) nicht mehr die Rede war.“ Gerd Bergfleth dagegen fordert, „daß man nicht in alle Ewigkeit mit moralischem Zeigefinger auf die drohende Antisemitismusgefahr hinweist, sondern in einer Art Gegenbilanz danach fragt, was der Prosemitismus der Linken anrichtet. Denn die universal ausgerichtete Bürgerlichkeit, wie sie das heimatlose (!) Judentum notgedrungen vertritt, hat auch ihre Kehrseite, die in der Auslöschung des jeweils Individuellen besteht. Es ist auffällig, daß das aufklärerische Judentum in der Regel keinen besonderen Sinn für das besitzt, was deutsche Eigenart (!) ist, etwa die romantische Sehnsucht, die Verbundenheit mit der Natur oder die nicht auszurottende Erinnerung an heidnisch-germanische Vergangenheit.“

Unter den bekannteren deutschsprachigen Autoren äußert sich u.a. Botho Strauß – wie Hans-Jürgen Syberberg oder der von links außen nach rechts außen gewendete Günter Maschke – dezidiert antidemokratisch. Bekannt sind z.B. seine Sympathien für den bekennenden kolumbianischen Reaktionär Nicolás Gómez Dávila, den Botho Strauß mit Beifall als einen „überzeugten Hierarchisten und Katholiken..., einen der großen spirituellen Reaktionäre“ bezeichnet.

Mit ostentativem Beifall zitiert er den folgenden demokratieverachtenden Aphorismus des Kolumbianers: „Die Freiheit des Demokraten besteht nicht darin, alles sagen zu können, was er denkt, sondern nicht alles denken zu müssen, was er sagt.“ Wenn man so will: Demokratie gleich Herrschaft derer, die nicht denken (können?), sondern quasseln. Diese Passage findet sich in Botho Strauß' Nachwort zu George Steiners großem Essayband „Von realer Gegenwart“ (Hanser Verlag, München), ein starkes Manifest für die Elite des Geistes in der Literatur und gegen die Masse der parasitären Rezensenten, Journalisten und Wissenschaftler, die an der Größe des Kunstwerkes nur schmarotzen und es verdunkeln. Diesen Elitegedanken aus der Ästhetik auf die Politik zu übertragen, weigerte sich George Steiner in seinem Buch wohlweislich, erst Botho Strauß vollzieht diesen Schritt in Anlehnung an Dávila in seinem Nachwort zu Steiners Buch.

Die Demokratie als Schwatzbude, die Nachkriegsordnung und Verfassung (z.B. bei Günter Maschke) oktroyiert von den Siegermächten, die Juden wurzellos, „notgedrungen heimatlos“ und den Deutschen wesensfremd, ohne Fähigkeit zur „romantischen Sehnsucht“. All dies Versatzstücke alten und wieder neuen rechten Denkens, das die Neugierde und theoretische Arbeit von Intellektuellen verdiente, zumal viele Ansatzpunkte dort von ehemals linker Theorie nach rechts wanderten: ein emotionaler Anti-Amerikanismus, Vorbehalte gegen Überfremdung durch die europäische Einigung, Auflehnung gegen die Dominanz „rein materieller“ Werte, gegen eine Zivilisation des Konsums, der Technik und der zwischenmenschlichen Kälte, gegen die Entwurzelung des einzelnen von Familie und Heimat.

Theoretische Kritik an rechtem Denken beginnt mit der Entrümpelungsarbeit im Keller linker Mythen, aber auch der Wahrnehmung von Teilwahrheiten in rechter Verpackung. (eigenmächtige Hervorhebung der Säzzerin, weil mir der Satz so gut gefällt, Gruß)

Eine sozialpädagogische und polizeiliche „Behandlung“ von rechten Straftätern ist selbstverständlich, kann aber nicht Ersatz für eine Auseinandersetzung mit dem oft noch diffusen Ideenhintergrund dieses Milieus sein.

Hinter den Störungen bei der Vorführung von Heises Dokumentarfilm über Rechtsradikale, „Der Stau“, durch autonome Gruppen z.B. steht auch die Angst der Störer, den Ideen der dort gezeigten Rechtsradikalen kein Paroli bieten zu können.

Der Autor ist Verlagslektor beim Verlag Kiepenheuer & Witsch.