■ Erich Honecker bleibt in Haft, das Verfahren gegen ihn wird trotz massiver medizinischer Bedenken fortgesetzt
: Der Prozeß als Strafersatz

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“ – Diese gleichmütig-resignierte Aufforderung, mit der Erich Honecker am sechsten Prozeßtag seine Verteidigungsrede abschloß, gerät offenbar wirklich zur Maxime der Moabiter Richter. Bei ihrer jüngsten Entscheidung jedenfalls, Honecker weiter in Haft und auf der Anklagebank zu halten, ließen sie sich weder durch rechtsstaatliche noch durch menschliche Erwägungen irritieren. Dem inhumanen Imperativ folgend, was einmal angefangen wurde, müsse – wie auch immer – zu Ende gebracht werden, hat das Gericht auf fatale Weise seine vermeintliche Unabhängigkeit unter Beweis gestellt und die medizinischen Einwände der Sachverständigen in den Wind geschrieben.

„Prognosegenauigkeit“ heißt der Schlüsselbegriff, mit dem der erdrückende Befund über Erich Honeckers Gesundheitszustand ignoriert wird. Solange sich kein Sachverständiger dazu bereit findet, anstelle der prognostizierten Lebenserwartung von sechs Monaten Honeckers Sterbedatum anzugeben, gilt der Mann als verhandlungsfähig, auch wenn niemand ernstlich glaubt, daß der ehemalige Staatschef das Ende des Prozesses erleben wird.

Unmenschliche Durchhalteentscheidung

Doch darum geht es ohnehin nicht mehr. Eher schon bringt die Nebenklage das Prozeßkalkül auf den Begriff. Als könne nicht hingenommen werden, daß der bevorstehende Tod des Angeklagten den – ohnehin umstrittenen – Strafverfolgungsanspruch vereitelt, geraten die Untersuchungshaft und der Prozeß selbst zum Strafersatz. Zwar trauen sich bislang nur die Nebenklagevertreter, das offen einzufordern; doch mit der Entscheidung vom Montag haben sich auch Gericht und Staatsanwaltschaft diesem Kalkül angeschlossen. Nur schwer noch läßt sich das böse Wort des Honecker- Anwalts Nicolas Becker von der Hand weisen, Honecker solle „zu Tode prozessiert“ werden.

Jeder Tag, den der 80jährige in Haft verbringt, ein Sieg des Rechtsstaates? – Wohl kaum. Mit jedem Tag mehr gerät der Prozeß gegen einen Sterbenden zum Skandal, mit dem sich der vollmundig propagierte Rechtsstaat selbst der Sphäre annähert, aus der die angeklagten Taten stammen. Nicht mit der Moabiter Gnadenlosigkeit, sondern allein mit der Haftentlassung Honeckers ließe sich Rechtsstaatlichkeit noch unter Beweis stellen.

Ganz auf der Linie der Bonner Entschlossenheit

Daß die unmenschliche Durchhalteentscheidung, wie das Gericht glauben machen will, ohne Ansehen der Person, allein aufgrund der Schwere des Tatvorwurfs getroffen wurde, ist kaum mehr als juristische Verbrämung. Je unerbittlicher in Moabit verfahren wird, desto unabweisbarer wird die Vermutung, im Prozeß gegen Honecker führe politisch motivierter Rachegedanke die Regie. Die Tatsache jedenfalls, daß die menschlich skandalöse Entscheidung genau auf der Linie jener Bonner Entschlossenheit liegt, mit der Honecker nach Deutschland zurück und vor Gericht gebracht wurde, untermauert die Zweifel an der gerichtlichen Unabhängigkeit gegenüber den offenkundigen politischen Erwartungen.

Dazu paßt gerade auch die Zwanghaftigkeit, mit der der unbezweifelbar politische Kontext der angeklagten Taten aus der Anklageschrift eliminiert wurde. Es gehört zur Ironie des Prozesses, daß ausgerechnet Honecker selbst in seiner Verteidigungsrede diese kaum zufällige Blindstelle offenlegte. Im Versuch, den politischen Hintergrund der angeklagten Taten zu verschweigen, zeigt sich die ganze Unsicherheit gegenüber dem Vorwurf, hier werde in Wahrheit ein politischer Prozeß veranstaltet.

Man mag nicht annehmen, daß der Beschluß, Honecker weiter in Haft und unter Anklage zu halten, auch damit zu tun hat, daß er sich mit seiner offensiven politischen Erklärung am sechsten Prozeßtag aus der ihm zugedachten Rolle des rückgratlos-feigen Politflüchtlings zu befreien suchte. Doch in der Ignoranz, mit der Honeckers Rede aufgenommen wurde, zeigte sich, daß nicht nur das Gericht, sondern auch die Öffentlichkeit Honecker nur noch als Prozeß-Objekt zu akzeptieren bereit ist. Auf die Erklärung des ehemaligen Staatschefs jedenfalls folgte reflexartig die billigste aller Rezeptionsvarianten: statt die Einlassung at its best zu interpretieren – quasi als Pendant zum in dubio pro reo eines rechtsstaatlichen Verfahrens –, suchte man sich aus der zweifellosen Fülle Honeckerscher Borniertheiten die drei, vier einschlägigsten Zitate, um die ganze Erklärung, kaum daß sie vorgetragen war, auch schon auf Null zu bringen.

Gegen den Eindruck, daß der greise Angeklagte mit seiner Rede den bisherigen Höhepunkt des Prozesses markierte, wurde die Öffentlichkeit regelrecht immunisiert. Man sah nur, was man sehen wollte: den altersstarrsinnig- schlechten Verlierer.

Sicher hat Honecker in seiner Rede die politische Mitverantwortung für die Toten an der Mauer nur übernommen, um zugleich – quasi als Erfüllungsgehilfe eines historischen Notstands – seine Verantwortung abzuwälzen. Doch schon allein dadurch, daß er die Zeitumstände von Kaltem Krieg und Entspannungspolitik vor Gericht thematisierte, hat er den Versuch, die Spitzenpolitiker von einst wie x-beliebige Totschläger zur Verantwortung ziehen, in Frage gestellt; er hat damit – Ironie der Geschichte – auch den Rahmen für ein gerechtes Urteil, wenn schon nicht mehr für ihn selbst, dann zumindest für seine Mitangeklagten, angedeutet.

Gelten rechtsstaatliche Normen auch gegenüber Gegnern?

Doch daß ein Gericht, das sich derart entschlossen zeigt, den einmal avisierten Weg ohne Irritation zu Ende zu gehen, den historisch-politischen Blick auf die angeklagten Taten doch noch zulassen könnte, dafür finden sich derzeit keine Argumente. Dabei hätte man es dem Vorsitzenden Richter Bräutigam schon zugetraut, mit einer souveränen, menschlich gebotenen Entscheidung das Bild eines unerbittlichen Konservativen zu konterkarieren. Doch Bräutigam mochte das – nach Aussage aller Sachverständigen – höchst geringe Risiko, Honecker könne das Ende des Moabiter Mammutverfahrens doch noch erleben, nicht eingehen. Man kann nur hoffen, daß Honeckers Verteidiger, deren Brillanz und Engagement allein noch das Beschämende dieses Moabiter Trauerspiels abmildern, den Fall vor das Bundesverfassungsgericht bringen. Denn am Umgang mit Erich Honecker erweist sich, ob die bundesdeutsche Justiz bereit ist, auch gegenüber ihren erklärten Gegnern rechtsstaatliche Prinzipien durchzuhalten. Der Moabiter Kammer jedenfalls darf man diese Entscheidung nicht überlassen. Matthias Geis