Trinken im Jahreszwischenreich

■ Trunken in der Nacht, Zimtkaffee in den späten Morgenstunden und das Exil in der Dorfkneipe: das Fest kann so schön sein!

Kurz vor Weihnachten beginnt die Traumzeit des Jahreswechsels, um erst Anfang Januar wieder zu enden. Verpflichtungslos läßt man sich im Ungefähren treiben. Die notdürftig durch Arbeit zusammengeflickte Routine der Tage bricht auseinander, um einem seltsamen Zwischenreich Platz zu machen.

Die Tage in der Traumzeit sind schön. Mit viel Elan und großer Freude nimmt man morgens schon jede Einladung zum Trinken an, vertändelt kreuzworträtselnd die Nachmittage und vergißt sich beim seltsam enthusiastischen Studium von Kontaktanzeigen. Wie jedes Jahr fragt man sich, wer der „mittelalterliche Mann“ wohl sei, der sich seit ungefähr zehn Jahren „gern von jungen Mädchen (ab 18)“ anrufen läßt und inzwischen gar einen Nachahmer gefunden hat, der als „netter mittelalterlicher Mann“ inseriert und sich „über Post von jungen Mädchen ab 18 freut“? Gern klingt dann auch der Abend betrunken aus, und jeder neue Tag hüllt sich in sanftes Katerlicht.

Am schönsten ist vielleicht nicht einmal das Betrunkensein in der Nacht, auf irgendeiner Party, mit irgendwelchen Leuten, die sanft ihre Gesichter und Meinungen vertauschen, am schönsten ist der Tag nach dem Betrunkensein. Denn der Nachrausch hält Erfahrungen bereit, die das Kiffen nur selten bietet. Am Morgen danach erinnert man sich zum Beispiel nicht mehr so ganz genau daran, wie man ins Bett gekommen ist. Und dann kommt der Morgen mit nach Zimt duftendem Kaffee und einer ersten Zigarette, deren Rauch man ein bißchen widerwillig aufnimmt. (Dann kommen die Bilder der Nacht als Film vorbei und in dem Film sagt immer einer, ich rauche nicht usw.). Manchmal wartet man ein bißchen und versucht sich auf ein Bild, einen Satz zu konzentrieren, der gesagt worden war. Von einem selbst oder einem anderen – in der Traumzeit des Jahreswechsels vertauscht man so Einiges und in der sanften Betrunkenheit des Tages blickt man wie aus einem Fenster im Hinterhof auf die diffusen Umgrenzungen des eigenen Körpers. Draußen freut man sich an den Gesichtern der MitbürgerInnen, plötzlich mag man jeden in seinem Dusel. Etc.

In die Traumzeit fällt für viele der Besuch bei den Eltern, der die eigene Irgendwiestimmung vertieft und ergänzt. Dort zu Hause, im Irgendwo auf Besuch, liest man ein paar Tage lang die HörZu und freut sich über die christlich-besinnlichen Weihnachtsgedanken der Regionalzeitung.

„Gottes Weg zum Frieden ist LEBENS-ZUCHT“, frohlockt die heimatliche Pastorin (Ursula Sieg(!)-Pommerening), während man gutgelaunt am Nachmittag in den Tag schaut. Freundlich ist das heimatliche Exil, und grell leuchten die elterlichen Videobirnen, damit das Weihnachtsfest auf dem Bildschirm danach noch schöner und kontrastreicher aussieht.

Wie in jedem Jahr finden nach dem Heiligen Abend, der bis Mitternacht den Eltern gewidmet ist, die gesellschaftlichen Ereignisse der Klein- und Mittelstädte statt. 35jährige Kaufleute trauern dann kiffend in den örtlichen Hippiekneipen ihrer wilden Teeniezeit hinterher oder treffen sich mit ihren ehemaligen Schulkameraden, die längst frustrierte SPD-Lehrer geworden sind, in seltsamen Dorfgaststätten zum Tanz. Viele derer, die in Schleswig-Holstein ihre Kindheit verbracht haben, zieht es zum Beispiel – nomen est omen – nach „Quaal“. Denn dort spielen seit dreißig Jahren und immer am zweiten Weihnachtstag die „Ladykillers“. Hell leuchtet das weiße lange Haar von „Zaubi“, dem fünfzigjährigen Trompeter, doch kaum jemand hört dem Hippie im lila Nicki zu, der sich an anderen Tagen als „Diplom-Finanzwirt“ durchs Leben schlägt. Vor allem ehemalige Mitschüler sind gekommen, um zu sehen, wie die anderen sich verändert haben. Kaum ein betrunkenes Auto wird am Ende stehen gelassen.

Schon ist man wieder fort und schaut zu, wie in den Autobahnraststätten der Ex-DDR die Modefarben der letzten Saison verramscht werden. Künstlicher Flieder versucht das schreiende Babypink der Plastiktischdecken zu beruhigen. Rosa umkreist eine Leuchtstoffröhre den einsamen Dattelautomaten. Pink oder violett und sehr lebensfroh sind die possierlichen Anschmiegtierchen, die zwei junge Autofahrer an einem „Jumbo“-Automaten vor der Raststätte versuchen zu greifen.

In seltsamen Berliner Museen dann, auf komischen Konzerten, beim Carreraautorennbahnfahren, vor dem Fernsehapparat, auf dem Friedhof, in der Hertiekantine am Halleschen Tor, in Cafés oder Kneipen wartet man auf Sylvester und gleitet in Trunkenheiten, hastig-entschlossen.

Immer neue Runden schwanken auf den Tisch zwischen den Jahren. Grenzerfahrungen konkurrieren brüderlich miteinander und lustig ruft ein Fläschchen Tequila 'Hallo‘. Eine Freundin hat sich verliebt und küßt ihren Freund nur beiläufig zum Abschied. Vor dem Brandenburger Tor kreisen drei Polonaisen umeinander. Leere Sektflaschen fliegen in die Luft und zerspringen aufgeregt am Boden. Dann läßt man die Neujahrsbullen in Kreuzberg hinter sich herrennen.

Übermüdet sind alle Gesichter am Anfang des Jahres recht freundlich und begehrenswert. Detlef Kuhlbrodt

„Aber Elefanten haben eine Seele. Alles was betrunken sein kann, überlegte er, muß so etwas wie eine Seele haben.“(Pynchon, „V“)