Abenteuer, die im eigenen Kopf entstehen

Fantasy-Spiele: Aus der langweiligen Realität in eine Welt voller Wunder/ Im Rollenspiel eine eigene Welt aufbauen: Ein finales Ende gibt es nicht, der Verlauf des Spiels ist das Ziel  ■ Von Friedel Epple und Vadim Ullmann

Ref und Thalion stehen in einer dunklen Nacht unter dem offenen Fenster des Arbeitszimmers von Aeryk, dem Hohepriester von Yarthraak. Irgendwo dort oben müssen sich die Dokumente befinden, die die beiden schon so lange suchen, der Beweis, daß die Priester des Seedrachens den Prinz Kier Ianis, Liebling des Volkes, in einem Staatsstreich beseitigt haben und nun vorgeben, daß er bei einem Unfall gestorben sei. Mit diesen Dokumenten hätte die Revolution, die im Süden vorbereitet wird, eine echte Chance.

Sven: „Thalion klettert die Wand hoch.“

Wilko: „Ref steht Schmiere. Thalion, sei vorsichtig, die Priester sollen mächtige Zauberer sein!“

Nicki (Spielleiter): „Sven würfle, ob Thalion das schafft.“

Sven würfelt eine 72. Zusammen mit seinem Kletterwert von 45 ist das eine 117: geschafft!

Nicki: „Du bist jetzt durch das Fenster geklettert. Im Zimmer kannst du einen Schreibtisch und einen Schrank erkennen. Was machst du?“

Sven: „Thalion durchsucht den Schreibtisch nach den Dokumenten.“

Nicki: „Lauter unwichtige Akten. Aber eine Schublade ist verschlossen. Mit deiner Erfahrung als Einbrecher könntest du das Schloß vielleicht knacken.“

Sven: „Ich probier's mit dem Werkzeug in Thalions Rucksack.“

Er würfelt eine 48.

Nicki: „Du warst schon mal besser. Es öffnet sich, gibt dabei aber eine Menge Lärm von sich. Ref hört ein lautes Gepolter aus dem Zimmer über sich und danach Schritte, die sich ihm nähern. Wilko, was tust du?“

Wilko: „Ich warne Thalion, indem ich einmal laut pfeife. Dann renne ich schnell um die Ecke.“

Sven: „Verdammt, komm ich irgendwie aufs Dach?“

Die Welt im Kopf

Das ist eine erdachte Szene, typisch für ein Fantasy-Rollenspiel. Fantasy-Rollenspiel findet vollständig im Kopf der Beteiligten statt, in ihrer Phantasie. Die Spieler erfinden zusammen eine Geschichte. Dabei aber hält man sich an Regeln. Ein Mitspieler übernimmt die Rolle des Spielleiters und jeder Spieler denkt sich eine Person aus, die er in das Spiel einbringt. Er alleine bestimmt, wie die Person (in der Fachsprache: Charakter) handelt, was sie denkt, was sie spricht.

Er wird dabei nur durch das Regelwerk und sein eigenes „Charakterblatt“ beschränkt, in dem die Grenzen seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten festgelegt werden, die er im Laufe des Spiels noch verbessern und neue hinzulernen kann. In Zweifelsfällen muß der Spieler würfeln, um zu erfahren, wie erfolgreich sein Charakter eine Aktion durchgeführt hat. Dabei wird das Ergebnis durch seine Fähigkeiten modifiziert.

Der Spielleiter dagegen legt den Hintergrund fest, alles was nicht direkt mit den Spielercharakteren zu tun hat. Er denkt sich die Probleme aus, die zu dem Abenteuer in der erdachten Welt geführt haben und lenkt alle Personen, die den Charakteren im Spiel begegnen („Meisterpersonen“). Er entscheidet über Erfolg oder Mißerfolg der Spieleraktionen und überlegt sich die unmittelbaren ihre Folgen. Schließlich muß er den Spielern ihr Umfeld beschreiben und ihnen erzählen, wie sie es durch ihre Taten verändern. Den Spielleiter könnte man also den Autor der so erfundenen Geschichte nennen, während die Spieler die Hauptpersonen vertreten. In einem Rollenspiel wird nie gegeneinander gespielt, (auch wenn Meinungsverschiedenheiten zwischen Spielercharakteren oft vorkommen), sondern immer miteinander. Der Sinn des Rollenspiels ist nicht das „Ziel“ der erdachten Geschichte, etwa ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern der Verlauf des Spiels selber.

Unterschiedliche Fantasy-Welten

Es gibt sehr unterschiedliche Fantasy-Welten. Das klassische Rollenspiel findet jedoch in einer Umgebung statt, in der die Technik etwa auf dem Stand des Mittelalters unserer Erde ist. In fast allen Rollenspielsystemen ist dagegen die Magie ein wichtiger Bestandteil und tritt in vielen Formen auf. Zum Beispiel leben auf den meisten dieser Welten Fabelwesen wie Elfen, Zwerge oder Drachen. Die Magie wird als eine reelle Kraft anerkannt, wird aber nicht von jedem ausgeübt. Die Menschen dort leben meist in einem feudalen Herrschaftssystem, obwohl die Unterschiede zwischen den verschiedenen Welten groß sein können.

Eine gute Fantasy-Welt aber zeichnet sich dadurch aus, daß die dort lebenden Menschen einen klaren, realistischen Alltag haben, und daß Fabelwesen nun mal Fabelwesen sind, die die Leute eher am Rande interessieren, da sie genug damit zu tun haben, an ihr nächstes Essen zu denken.

Ein gutes Beispiel für eine solche Welt ist Tolkiens Mittelerde. Andere Fantasy-Welten liegen technisch in der Zukunft. In diesen Welten existiert interessanterweise meistens keine Magie. Anstatt der sonst üblichen Fabelwesen sind in Zukunftsszenarien oft genetische Veränderungen der Lebewesen oder teilweiser Ersatz von Organen durch Computer möglich. Die technische Atmosphäre solcher Fantasy-Welten zerstört allerdings oft die faszinierende Stimmung des Rollenspiels und läßt der Phantasie nur wenig Platz. Dementsprechend geht der Trend, so ein Verkäufer von Fantasyspielen, in Richtung „klassischer“ Fantasy, also Rollenspiel in mittelalterlicher Umgebung.

Welche Leute spielen denn nun diese berüchtigten Fantasy-Rollenspiele? Was sind das für Menschen? Sind es total ausgeflippte Leute, die jeden Bezug zur Realität verloren haben? Oder etwa genau das Gegenteil? Vertreten sind beide Gruppen: Fanatiker, die das Rollenspiel zur Religion erheben und sich in mittelalterlicher Aufmachung an abenteuerlichen Orten mit Gleichgesinnten treffen. Aber auch die Taktiker, die vor jeder Aktion ihre Chancen auf Erfolg kühl berechnen. Doch beides sind nur Randerscheinungen, die wir nicht weiter erwähnen wollen. Der gewöhnliche Rollenspieler ist, oh wunder, ein relativ normaler Mensch. Ein mit unausführbaren Ideen und Hoffnungen erfüllter normaler Mensch zwar, aber das gehört wohl dazu. Er und/oder sie sind meistens zwischen 15 und 30 Jahre und spielt zum Teil schon seit vielen Jahren Rollenspiele. Sie verlassen nach einem anstrengendem Tag zusammen mit den besten Freunden die häßliche und etwas langweilige Realität und tauchen ein in eine Welt voll Wunder und Abenteuer.

Dieses Erlebnis der Befreiung, vor allen Dingen das Zusammentreffen mit Freunden und der Austausch gemeinsamer Phantasien ist es wohl, der die gewöhnlichen Rollenspieler immer wieder zusammenbringt. Ob der Lieblingsheld nun eine revolutionäre Elfin ist, die die strengen Regeln ihres Volkes bricht, ein mächtiger Krieger, der beharrlich für seine Ideale von Religion und Ehre streitet, oder ob es ein finsterer Magier ist, der, von Machtgier beseelt, immer mehr seine Menschlichkeit verliert. Jeder Spieler geht eine Liebesbeziehung zu seinen (oder auch anderen) Charakteren ein. Dabei sehen die Charaktere ihren Spielern meist nicht einmal ähnlich. Es ist einfach die Freude daran, in eine von ihm selber erschaffene Persönlichkeit zu schlüpfen und sich in ihre Gedanken hineinzuversetzen.

Gewalt zerstört das Spiel

Ein Problem, das das Spiel leicht zerstören kann, ist die Gewalt im Rollenspiel, das in Zahlen erfaßte Töten eines Gegners. Tatsächlich nimmt der Kampf in vielen Rollenspielregelwerken einen wichtigen Platz ein. Einige Systeme, wie z.B. AD&D (Advanced Dungeons and Dragons), sind fast außsschließlich auf Kampf ausgerichtet. Aber schließlich kommt es darauf an, welche Leute beim Rollenspiel zusammenkommen. Es gibt zwar einige Spieler, deren Phantasie nicht darüber hinausgeht, einen Superhelden zu spielen, der Probleme prinzipiell nur mit seiner überdimensionalen Waffe löst. Andererseits gibt es auch Spielerrunden, die Gewalt als Problemlösung ablehnen. Das deutsche System „Das Schwarze Auge“ hat seit einiger Zeit ein gewaltloses Konzept, das anscheinend auch bei den Spielern gut ankommt. Eine andere Art von Rollenspiel, das in letzter Zeit recht populär geworden ist, sind „Fun-Rollenspiele“. Sie sind nicht ganz ernstzunehmen; in ihnen kommt es nicht so sehr darauf an, eine vernünftige Geschichte zu entwerfen, sondern sie sollen hauptsächlich lustig sein und einfache Unterhaltung bieten. Dadurch können sie langweilig werden, sind ab und zu aber ganz lustig zu spielen. Ein Beispiel ist „PP&P“ (Plüsch, Power and Plunder), in dem die Spieler in die Rolle eines Plüschtiers schlüpfen. Ein anderes ist „Paranoia“, in dem sich der (fast) allmächtige Computer mit allen Mitteln gegen Kommunisten und Naturfreunde wehrt.

Interessant ist die Wechselwirkung zwischen Fantasy-Rollenspiel und -literatur. Die meisten Rollenspielsysteme sind aus der Fantasy-Literatur entstanden oder umgekehrt. Viele Fantasybücher, die aus Rollenspielsystemen entstanden sind, sind unwichtig oder uninteressant, da sie nur in Auftrag gegeben worden sind, um dem Käufer auf diese Weise noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen. Umgekehrt ist es so, daß einige Bücher, aus denen ein Rollenspielsystem abgeleitet ist, nahezu unerläßlich zum Verständnis des Rollenspielsystems sind – etwa Tolkiens „Herr der Ringe“ im Fall von „MERS“ (Mittelerde-Rollenspiel). Der englische Professor Tolkien hat die moderne Fantasy- Literatur erfunden, und die meisten seiner unzähligen Nachfolger haben sich in wichtigen Fragen an ihm orientiert. Daher helfen seine Bücher, das Konzept der modernen Fantasy zu verstehen; die meisten Fantasy-Liebhaber von heute sind mit ihm eingestiegen.

Zweifelhafte Phantasie-Nachhilfen

Verschiedene Firmen bieten den Kunden Zinnfiguren in allen Größen und Formen an. Sie sollen den Spielern helfen, ihren Charakter zu illustrieren. Die Interessierten können sich unter der gewaltigen Auswahl die Figur aussuchen, die ihrer Vorstellung von ihrem Charakter am ehesten entspricht. Mit etwas Farblack bemalt, werden sie zu kleinen Kunstwerken. Außerdem können die Zinnfiguren Neueinsteigern helfen, bestimmte Szenen im Spiel nachzustellen, wenn die Einbildungskraft alleine noch nicht reicht. Für viele Spieler allerdings sind Zinnfiguren unnötige Zeit- und Geldverschwendung. Zum Darstellen einer Szene reichen ein paar Bleistiftskizzen vollkommen aus. Auch zur Beschreibung des eigenen Charakters sind die Figuren absolut ungeeignet, da sie nicht der eigenen Phantasie entsprungen sind und so die Persönlichkeit und das Aussehen der gedachten Figur niemals auch nur annähernd abbilden können. Zinnfiguren sind teuer und haben nicht viel mit Rollenspiel zu tun, wem es aber Spaß macht, sie zu sammeln und zu bemalen, wird seine Freude daran haben.

Computer kennen keine Phantasie

Neuerdings schmücken sich auch einige Computerspiele mit dem Wort „Rollenspiel“. Dabei sind diese beiden Spielideen genau das Gegenteil voneinander: in einem Computerspiel ist alles von vornherein vorgegeben, während im Rollenspiel der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind. Computer kennen keine Phantasie, im Gegenteil, sie zerstören sie, da der Computer, genauer sein Programmierer, dem Spieler das Denken abnimmt und verbietet.

Wahres Rollenspiel ist mehr als ein Spiel oder ein Hobby. Für viele Spieler ist es eine Lebensart. Wie die meisten Drogen ist der Stoff, aus dem die Träume gemacht sind, leider immer noch ziemlich teuer. Wenn man aber bedenkt, was man alles aus einem an sich dünnen Heft mit Hintergrundmaterial machen kann, läßt sich der Preis gerade noch ertragen. Falls jemand mit viel Zeit und Ideen ausgestattet ist, kann er sich sein Material auch selber entwerfen. Spiele mit solchem Hintergrund sind oft die schönsten, andererseits sind die Materialien, die im Handel erhältlich sind, mit viel Mühe und Sachkenntnis zusammengestellt, so daß sich jeder für seinen eigenen Weg entscheiden sollte. Wichtig ist eigentlich nur das Spiel selber.