Die Entdeckung der Skurilen

Der ultimative Text zum Eroberungsjahr 1992 und eine nachträglich Würdigung des Entdeckers Erwin Wümmeling. Die Inselgruppe der Widersprüche  ■  Von Rüdiger Kind

Als Erwin Wümmeling, der bekannte spätmittelalterliche Weltumsegler aus Treuchtlingen, an einem windigen Frühherbstnachmittag des ausgehenden 15. Jahrhunderts seine Schaluppe auf eine fernöstliche Sandbank setzte, konnte er noch nicht ahnen, daß er das Zeitalter der Entdeckungen mit einem bis heute noch nicht eingehend gewürdigten „großen Wurf“ eingeläutet hatte.

Sogleich unternommene kartographische Bemühungen ergaben, daß es sich beim angelandeten Gestade um eine Insel handelt, die als solche wiederum kein Einzelfall, sondern Teil einer ganzen Zusammenballung von Inseln war, welcher Wümmeling den bis heute stimmigen Namen „Skurilen“ gab.

Heute warnt ein winziges Hinweistäfelchen den Seefahrer vor den maritimen Unwägbarkeiten der Küstengewässer. Die Frage darf jedoch gestattet sein, ob die Anbringung eines Leuchtfeuers nicht die angebrachtere Lösung gewesen wäre – aber auch dies gehört zu den Merkwürdigkeiten dieser Inselgruppe und macht vielleicht gerade heute ihren besonderen Reiz für den westlich-genormten Zivilisationsmenschen aus.

An der gleichen Stelle, an der Wümmeling erstmals Skurilen-Boden betrat, erhebt sich heute Humbuk, die stolze Metropole des Inselreichs, die mit 58 Einwohnern zu den kleinsten Hauptstädten der Welt gezählt werden darf und die sich als Scharnier zwischen Orient und Okzident, als west-östliche Steckverbindung einen hervorragenden Namen gemacht hat.

Unterstrichen wird die Adapterfunktion Humbuks auch durch das rege Kommen und Gehen, das in der Bahnhofshalle der Inselmetropole herrscht. Ein kleines Wunder, denn Züge verkehren hier schon seit der Eröffnung der Bahnstrecke im Jahre 1894, als der japanische Eisenbahntenno Yuko Watanabe eigens einen Zug einschiffen ließ, nicht mehr. Damals war ganz Humbuk auf den Beinen, um das fauchende Eisenmonster zu bestaunen, das in vier Luxus-Waggons die Spitzen des damals zaristischen Kolonial-Establishments in den Tod ziehen sollte – nach 13 Kilometern endete der Schienenstrang nämlich an der pittoresken Steilküste von Hokdiado, und der Zug dampfte geradewegs ins nasse Grab.

Der Humbuker Hauptbahnhof mauserte sich nach dieser Katastrophe rasch zum nationalen Ehrentempel, zu einem Mahnmal gegen menschliche Hybris und für bessere Bremsen. Seitdem hegt die Einwohnerschaft der Skurilen, ansonsten ein gutmütiges und vertrauensseliges Völkchen, ein leises Mißtrauen gegen Schienenwege.

Dieser nachhaltigen Auslöschung der russischen Kolonialherrschaft folgten Jahrzehnte japanischen Stäbchenzwangs in Humbuks Imbißbuden – bis die Weltgeschichte 1945 die Skurilen wieder in ihren Zangengriff nahm: Stalins Marionetten regierten fortan mit allen Ingredienzien sowjetischer Selbstherrlichkeit und unterdrückten die besten Überlieferungen einer rechtlosen Einwohnerschaft: hatte Hokdiado, die Hauptinsel des Archipels, für die Ureinwohner, zu deren großen Leidenschaften das Rauchen gehört, die Form eines Aschenbechers und bildete die Inselgruppe als Ganzes gesehen für sie ein komplettes Raucherbesteck, so sahen die sowjetischen Besatzer darin nichts als „ein echt russisches Stilleben mit Wodkaflasche und Samowar“, wie es Stalins Statthalter noch Anfang der fünfziger Jahre zur Rechtfertigung der sowjetischen Besitzansprüche vor der UN-Vollversammlung behauptete.

Tatsache aber ist, daß schon Erwin Wümmeling die frappierende Ähnlichkeit einer kleineren Nebeninsel mit einer Selbstgedrehten feststellte und Isiezi, der Junior der Inselrotte, für ihn unverkennbar der Pfeifenstopfer unter den Inseln war.

Vor diesem historischen Hintergrund versteht man besser die eigentümliche Ambivalenz im Selbstverständnis der Insulaner, die noch heute ihren Wodka mit Stäbchen löffeln und den Samowar mittlerweile zur Wasserpfeife umfunktioniert haben. Jahrhundertelange Fremdherrschaft geht eben auch am Skurilen nicht spurlos vorbei.

Mit der neuerlichen Rückgabe der Inseln an Japan wird nun ein neues Kapitel ihrer wechselvollen Geschichte aufgeschlagen. Sicher, der heutige Japaner wird manches besser machen als der Russe, aber ob es ihm je gelingen wird, die liebenswerten Eigenheiten dieses Völkchens von Langschläfern, das gerne alle fünfe gerade sein läßt und, wenn nötig, schon mal beide Augen zudrückt, den Anforderungen seiner modernen Industrie anzupassen, scheint doch sehr fraglich: für Begriffe wie Stechuhr, Nachtschicht oder Akkordarbeit kennt die skurilische Sprache nämlich überhaupt keine Wörter, dafür stehen für Begriffe wie Mittagsschläfchen, Feierabend und Krankfeiern gleich mehrere zur Verfügung. Ein Rätsel für Linguisten, aber eben ein sehr inseltypisches, für das Sascha Yamahita, der beliebte Nationaldichter der Skurilen, eine einleuchtende Erklärung gegeben hat. Der Schriftsteller, dessen Werke übrigens auch die vier Regale der Leihbücherei „Goetheborg“ in Humbuks Innenstadt füllen, führt den hervorstechenden Charakterzug seiner Sprache darauf zurück, daß der Skurile nur „über Dinge redet, von denen er eine profunde Kenntnis besitzt“. Daran sollte sich die Welt ein Beispiel nehmen!