■ Zustand einer Möchtegern-Regierungspartei
: Dreimal eingeknickt

„Ich gebe zu, daß sich die SPD seit Petersberg alle Mühe gibt, sich im Hinblick auf Reformpolitik als überflüssig zu präsentieren.“

So gequält, wie dieser Satz sich anhört, fühlen sich auch sein Urheber Horst Peter und die übrige Linke innerhalb der SPD – sie sind radikal unter die Räder gekommen. Parteivorstand, Parteirat und Fraktion haben einer Verabredung zwischen Parteispitze und Regierungskoalition zugestimmt, deren Umsetzung zu einer Abschaffung des Rechts auf Asyl führen wird – eine Vorstellung, die noch beim Sonderparteitag im November unmöglich schien und dem Geist der dortigen Beschlüsse diametral widerspricht.

Die Diskussion um den Artikel 16 des Grundgesetzes war die bislang entscheidende Debatte des neuen Deutschland, jedenfalls in seinem westlichen Teil. Letztlich war es mehr eine Debatte über die Verfassung als über das Asyl. Es ging darum, was von der alten Bundesrepublik bleibt, welche Elemente für das Bewußtsein des neuen Deutschland wesentlich sein sollen.

Der Streit darum war wichtig, und es ist das Verdienst der SPD, daß er öffentlich und mit geradezu plebiszitären Zügen geführt wurde. Bis zu diesem Punkt war die nach der Vereinigung begonnene Verfassungsdebatte ja eine reine Kopfgeburt, die selbst in Bonn nur einen Spezialistenkreis bewegte. Der von vielen erhoffte gesellschaftliche Diaolog zwischen Ost und West über eine neue Verfassung war nie zustande gekommen, weil die OstlerInnen bald andere Sorgen hatten und der Mainstream im Westen sowieso der Meinung war, bis auf einige technische Korrekturen im Zuge des Beitritts gebe es am Grundgesetz eigentlich nichts zu ändern.

Lange Zeit schien es, als würde sich die einzig relevante, tatsächliche Veränderungen antizipierende Verfassungsdiskussion auf die Außenpolitik konzentrieren. Die Vereinigung und der fast gleichzeitige Abgang der UdSSR von der Weltbühne brachten der größeren Republik auch ihre vollen Souveränitätsrechte zurück, deren zukünftige Verwendung bestimmt werden muß.

Dabei gab und gibt es zwei Fragen, die das kommende Jahr dominieren werden: a) Soll ein Teil der nationalstaatlichen Souveränität an eine europäische Union abgegeben werden, und b) in welchem Umfang soll die Bundeswehr, jetzt wo die alliierten Beschränkungen gefallen sind, wieder zum Instrument deutscher Außenpolitik werden? Letztlich hat der tödliche Rassismus in Deutschland jedoch dazu geführt, daß erst einmal über die innere Verfaßtheit des Landes Klarheit geschaffen werden mußte.

Das Vehikel dazu war die Asyldebatte, das Medium die SPD. Björn Engholm sieht sich persönlich am liebsten in der Rolle des großen Moderators: die Partei öffnen, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zusammenführen, sachbezogen diskutieren und – jedesmal ein kleiner Sieg der Vernunft – letztlich konsensual, weil sachlich richtig, entscheiden. Engholm ging, angeblich entgegen dem Rat von Willy Brandt, auch in der Asyldebatte so vor.

Fatalerweise suchte und fand er den Konsens mit den falschen Leuten – ein Oppositionsführer nicht auf der Suche nach neuen gesellschaftlichen Mehrheiten, sondern nach Umgruppierungen auf der Regierungsbank. Während Engholm offenbar an Koalitionskonstellationen dachte, diskutierte seine Partei, manchmal mit echter Leidenschaft, über das Vermächtnis der Vergangenheit, die völkische Gesellschaft und die Notwendigkeit des Teilens für eine neue europäische Ordnung.

Die Bilanz dieser Debatte ist überwiegend positiv. Die Mehrheit in der SPD, angefangen von den Delegierten auf Bezirks- und Landesparteitagen bis hin zu Teilnehmern des SPD-Sonderparteitages, sprach sich grundsätzlich dafür aus, eine richtige Konsequenz aus den Erfahrungen des Faschismus nicht fallenzulassen, Grundzüge einer multikulturellen Gesellschaft zu entwerfen, das heißt die Bundesrepublik als Einwanderungsland zu begreifen und das Grundgesetz lediglich im Sinne einer europäischen Ordnung zu ergänzen. Demonstrationen und die Ergebnisse von Meinungsumfragen signalisierten der Partei, daß sie, nachdem die Rechte jahrelang die Asylfrage dämonisierte, gute Chancen hatte, die Meinungsführerschaft zurückzugewinnen. Rassistische Arroganz mit dem Gestus „Deutschland zuerst“ ist nicht – vielleicht muß man sagen: noch nicht – per se mehrheitsfähig; welche Voraussetzungen braucht eine Opposition eigentlich noch, um eine deutliche Alternative zur herrschenden Katastrophe anzubieten?

Das Toskana-Trio Engholm, Klose und Lafontaine hat die Chance nicht genutzt. Ob aus Mangel an eigener Überzeugung, ob aus Angst, auch persönlich für eine Überzeugung im Konflikt stehen zu müssen, oder nur aus Gründen simpler Karriereplanung: das Führungstrio hätte mit breiter Unterstützung in der Partei eine gesellschaftliche Alternative zu Helmut Kohl werden können und hat gekniffen. Statt dessen hat es für einen billigen Etikettenschwindel die aktivsten Leute in der eigenen Partei und der Gesellschaft vor den denkenden Kopf gestoßen.

Da der große Aufschrei als Folge des Betrugs wohl auch aus Erschöpfung ausblieb, wird der Frust in resignative Zurückhaltung weiter Teile der Partei übergehen – mit wiederum fatalen Konsequenzen für die zweite große Verfassungsdebatte über den Verwendungszweck der Bundeswehr. Nach demselben Strickmuster wie in der Asyldiskussion hat die Koalition es geschafft, die SPD erneut in eine Ecke zu drängen, aus der sie angeblich nicht mehr herauskommt.

Nur daß es diesmal – statt der Bürgermeister draußen im Lande, die wegen der „Flüchtlingsströme“ den Artikel 16 endlich weghaben wollen – die Freunde weltweit sind, die eine verfassungsrechtliche Festlegung nicht länger hinnehmen wollen. Germans an die Front, aber subito, scheint die vorherrschende Parole in den Vereinten Nationen der KSZE und der Nato zu sein, wenn man Klaus Kinkel täglich klagen hört. Stellvertretend für den Rest der Welt ruft Wüstenkriegsheld Norman Schwarzkopf den Deutschen zu, Verfassungen sind dazu da, daß man sie ändert, jetzt muß Flagge gezeigt werden. Und siehe da, plötzlich läßt unsere Verfassung einen Einsatz der Bundeswehr in Somalia zu. Verdeckt wird mit dem Geschrei über die größer gewordene Verantwortung für die Welt – eine Erkenntnis, die viel eher in den Kontext der Asyldebatte gehört hätte –, daß es nicht um die Hungernden in Somalia geht, sondern um die Frage, ob knapp 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges auch Deutschland wieder eine Armee als außenpolitisches Machtmittel einsetzen können soll.

Hinter den Spitzfindigkeiten von peace-keeping, peace-making oder Golfskriegs-Variante, vor oder nach UNO-Reform, alleine oder nur im Verein mit einer europäischen Armee steht immer die gleiche Frage: Ist Krieg nach dem Ende der wechselseitigen Drohung mit der totalen Vernichtung wieder zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln geworden, und, wenn ja, soll Deutschland in diesem Spiel der Großmächte wieder mitspielen dürfen? Da unsere Nachbarn diese Frage lediglich aus ihrer kurzfristigen Interessenlage heraus beantworten, wäre es an der Opposition, Rühe und Kinkel ein anderes Konzept entgegenzusetzen. Noch besteht die SPD- Mehrheit darauf, die Bundeswehr nur unter dem Blauhelm und damit auch perspektivisch nur unter der Befehlsgewalt der UNO außerhalb des Nato-Vertragsgebietes einzusetzen.

Voraussetzung dafür wäre eine klare Aussage gegen die nationale Armee in Europa und eine Vorstellung, wie die modernisierte UNO aussehen könnte. Die Signale des Toskana-Trios gehen allerdings in eine andere Richtung. Wachsweich möchte Engholm sich nicht festlegen, Verhandlungsspielräume mit Kinkel und Rühe offenhalten und Wünsche des UN- Generalsekretärs Butros Ghali möglichst schnell berücksichtigen. Damit ist die SPD-Führung wieder auf der schiefen Ebene und das Resultat absehbar. Die Partei wird dieser Entwicklung, soviel ist nach dem Ausgang der Asyldebatte klar, nicht mehr viel entgegenzusetzen haben.

Um das Maß voll und die SPD endgültig kompatibel für die große Koalition zu machen, hat Engholm sich jetzt definitiv für eine dritte Verfassungsänderung ausgesprochen. Artikel 13 GG, der die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert, soll dem großen Lauschangriff geopfert werden. Nachdem die Ideologen des deutschen Sicherheitsapparats die sogenannte Organisierte Kriminalität als neuen Staatsfeind Nummer 1 anbieten, ist Engholm jetzt bereit, den Wünschen der parteiübergreifenden law and order- Fraktion nachzukommen. Mit dieser runderneuerten Engholm-SPD ist in Bonn nicht mehr nur keine Opposition zu machen, Engholm, Klose und Lafontaine schaffen sogar aus der Opposition, wofür Helmut Schmidt noch die Regierungsbank benötigte: die Wiederbelebung der Grünen.

Selbst diejenigen, die nach der letzten Wahl noch dachten, die Grünen haben zu den Problemen der Vereinigung nichts zu sagen, deshalb ist ihr Abgang nur gerecht, sind mittlerweile schmerzlich eines Besseren belehrt.

Ohne die Grünen im Bundestag ist die Engholm-SPD zu einer Reformperspektive nicht in der Lage. Bis die Grünen wieder dabei sind, wird Engholm allerdings seinen Platz im Boot der großen Koalition schon fest gebucht haben.

Jürgen Gottschlich