Lichterkette: Ganz Berlin war eine Kerze

■ Mehr als 200.000 nahmen an der stillen Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit am ersten Weihnachtsfeiertag teil

Berlin. Die Nachricht geht durch die Reihen, etwa um viertel nach sechs Uhr – eine Staumeldung der besonderen Art. Die Lichterkette ist geschlossen. Über zwölf Kilometer stauen sich auf der gesamten nördlichen Fahrbahn – vom Lustgarten bis zum Theodor- Heuss-Platz – die Kerzenträger. Fast keine Taschenlampe ist zu sehen, nur lauter Christbaumkerzen, Haushalts-, Wind-, Tee-, und Grablichter, Fackeln, Wunderkerzen und windgeschützte Lichtchen in Gurken- und Marmeladengläsern. 200.000, vielleicht aber auch 250.000 Menschen haben sich an diesem kältesten Weihnachtstag seit 23 Jahren zur Ost-West-Achse aufgemacht, um zu zeigen, daß in dieser Stadt kein Platz ist für Rassisten und Fanatiker, für alte und neue Neonazis, für Antisemiten und Brandstifter.

Alleine zwischen Brandenburger Tor und Lustgarten tanzen über 50.000 Lichter und flackern gegen den Haß und die Gewalt. „Ich möchte nicht ins Theater“, jammert ein Steppke seine Eltern an, „sondern bei der Lichterkette bleiben.“ Einer französischen Touristin stehen die Tränen im Gesicht, eine amerikanische Besucherin verknipst mit Profi-Winder ganze Filme. Relativ unbeachtet stehen auch einige Politiker herum. Der Regierende Bürgermeister Diepgen bezeichnet die Lichterkette als „Weihnachtsbotschaft ohne Worte, die beredt für Berlin und die Bundesrepublik Deutschland spricht“. „Wenn Lichter schreien könnten“, sagt Miriam Goldschmidt vom Jüdischen Kulturverein, „dann müßten den Bonnern jetzt die Ohren klingen.“

Auf der Fahrbahn am Kaiserdamm schiebt sich ein rauschebärtiger Endvierziger durch die Menge. Hoch erhoben trägt er einen vierarmigen Leuchter, schwer verziertes Gründerzeitkupfer, die Kerzen flackern wie im Dracula- Film. Ihm begegnet eine schmale Frau, die mit der einen Hand ihre zu klein geratene Kunstpelzmütze auf dem Kopf festhält, mit der anderen ein Gurkenglas balanciert, worin das Kerzenlicht in schöner Ruhe glänzt. Die beiden lachen sich an und sind schon wieder weiter. Von fern klingen die Glocken der Lietzenseekirche.

Der Einsatzleiter, Hauptkommissar Drechsler, steht mit seinem Funkwagen eingekeilt am Lustgarten. Nur 250 Bereitschaftspolizisten dirigiert er, „kein Eingreifen, auch wenn Querstraßen blockiert werden sollten“, heißt der Abendbefehl. Viele Querstraßen sind um halb sieben durch Kerzenreihen gesperrt. „Ihr seid die Nazis“, schreit ein wütender Kombibesitzer an der Schloßstraße. „Halten Sie mal die Luft an“, entgegnet der Wachhabende, „das dient hier einem guten Zweck.“ Vor der Polizeiwache am Kaiserdamm 1 stehen zwei junge Polizistinnen mit selbstgebastelten Fackeln und lächeln glücklich. „So schön war Weihnachten noch nie“, sagt eine.

In den Löchern eines Gullydeckels haben ein paar junge Leute, denen die Finger kalt wurden, vorübergehend ihre Kinderfackeln festgeklemmt, es sieht beinahe aus wie ein Lagerfeuer. Zwei Inderinnen, in ihre bunten Saris gehüllt, beugen sich vorsichtig über die Lichter. Jemand möchte sie fotografieren. Sie blicken hinüber, halb amüsiert, halb furchtsam: „Aber bitte nicht in einer Zeitschrift veröffentlichen.“ Man kann nicht wissen, wie lange der Schutz der Lichterkette anhält.

„Auf morgen kommt es an“, sagt eine Frau im Rollstuhl, die gleich mehrere Kerzen auf der Armstütze festgewachst hat. Neben ihr steht ein Ghetto-Blaster im New Yorker Format. Sie legt eine Kassette ein. Mahalia Jacksons gewaltige Alt-Stimme klingt über die Bismarckstraße. An einer anderen Stelle singen Jugendliche „We shall overcome“ und wieder anderswo „Das Licht ist aufgegangen... So sind gar viele Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehn“.

Um sieben Uhr haben sich die vielen Familienpulks an die Kälte gewöhnt. Sie wollen nicht nur so einfach nach Hause gehen und fangen an zu basteln. Kinder, Mütter, Väter tröpfeln und kleben ihre Kerzen auf die Randsteine, auf Geländer, in Häusernischen. Im Nu entstehen Lichterbänder, formen sich zu Kringeln und Schlangen. Ein Windstoß bläst viele Kerzen aus, andere wirft er um. Helfer drängen heran, bilden einen lebendigen Windschutz, zapplige Kinderhände kleben die Lichter wieder fest, zünden sie neu an, arrangieren sie um. Am besten geht es auf den Metallsockeln der Straßenlaternen. Da wachsen ganze Kerzenburgen.

Stunden später, als alle Menschen längst wieder zu Hause sind, flackern immer noch zahlreiche Lichter am Straßenrand. Um die Holzkreuze am Ernst-Reuter- Platz, aufgestellt von Studenten für die Opfer der rassistischen Gewalt des Deutschlands von 1992, lodern die roten Grablichter morgens um zwei Uhr immer noch. Anita Kugler

Siehe auch Seiten 10 und 18