Documenta9 – Spot aus!

Diese totale Verdinglichung der Subjektivität des Künstlers

Der „Spot“ war eine taz-Serie zu einzelnen Arbeiten oder Künstler(inne)n auf der Documenta9 in Kassel. Es erschienen zehn Folgen: am 10.7. zu Wim Delvoye (S.15), am 5.8. zu Anish Kapoor (S.13), am 8.8. zu Cady Noland (S.12), am 25.8. zu Matt Mullican (S.15), am 29.8. zu Charles Ray (S.12), am 31.8. zu David Hammons (S.13), am 1.9. zu Ulrich Meister (S.15), am 9.9. zu Rebecca Horn (S.12.), am 14.9. zu Bill Viola (S.13), am 16.9. zu Zoe Leonard (S.15). Den letzten, einen wandernden Spot, wirft Yve-Alain Bois, Harvard-Professor, Matisse-Kenner und absoluter Documenta-Neuling; wir entnehmen die Rede der Schrift „Texte zur Kunst – Autoren von Texte zur Kunst halten Reden u.a. auf der Documenta IX“, wo sie auf englisch erschien. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. (uez)

Der folgende Beitrag besteht aus ein paar beiläufigen Notizen von meinem Besuch auf der Documenta; er ist – anders als die meisten Beiträge hier – keine vorbereitete Rede.

Ich möchte zunächst erklären, wie und warum ich hierherkam. Stefan Germer lud mich ein, weil ich ohnehin zum internationalen Kunsthistorikerkongreß nach Berlin fuhr (und warum ich dorthin fuhr, hat einen ganz einfachen und trivialen Grund: Ich war nie zuvor in Berlin gewesen, und da meine Fahrtkosten und Spesen übernommen wurden, war dieser Anlaß so gut wie jeder andere). Auch in Kassel war ich nie zuvor gewesen, auch nicht zu der Zeit, als ich in Europa lebte, aber in krassem Gegensatz zu meiner Neugier auf Berlin hatte ich niemals den leisesten Wunsch verspürt, die Documenta zu sehen. Als ich die Einladung erhielt, rief ich daher ein paar Freunde an, die ebenfalls zu beiden Veranstaltungen eingeladen worden waren, darunter Rosalind Krauss und Benjamin Buchloh, und beide sagten mir, sie würden nicht zur diesjährigen Documenta fahren. Rosalind meinte, sie wolle Documenta-Jungfrau bleiben, und Benjamin stellte fest, selbst wenn man die Documenta kritisiere, würde schon die bloße Tatsache der Teilnahme die Veranstaltung aufwerten, sie sozusagen negativ legitimieren. Schließlich beschloß ich, Stefans Einladung anzunehmen, weil ich die falsche Vorstellung hatte, dies sei die letzte Documenta, und ich meinte, ich sollte sie zumindest einmal gesehen haben. Diese Vorstellung verdankte ich teilweise den negativen Kritiken, die sie ausgelöst hatte. Ich glaubte damals, die negativen Kritiken seien der Beweis, daß die Documenta überflüssig geworden sei. Aber meine Vorstellungen von dieser Show waren sehr vage: Ich glaubte, sie funktioniere als eine Art Trüffelschwein für den Kunstmarkt, sie fände neue Künstler und präsentiere sie dem System der Galerien, oder sie bestätige beginnenden Ruhm. Für diese Documenta gilt das mit Sicherheit nicht, und ich beginne zu zweifeln, ob es je gegolten hat. Ich hatte, ähnlich wie John Miller, auch ein Bild vom Kurator als Künstler, eine Vorstellung, die paradoxerweise bestärkt wurde durch die heftige Kritik, die gerade der Kurator dieser Documenta hatte erfahren müssen. Aber auch diese Vorstellung wurde, so weit es mich angeht, durch mein Erlebnis der Show völlig entkräftet: es wäre sehr schwer, diese Show als Kunstwerk zu begreifen, denn sie hat weder eine Richtung noch überhaupt eine Form. Bevor ich hierherkam, hatte ich nicht begriffen, daß diese scharfe Kritik (und die Entscheidung für Jan Hoet als Kurator, die ihr Anlaß war) in Wirklichkeit ein hervorragend gelungener Coup der Tourismusindustrie war: angesichts der Besuchermassen einerseits, die sich in den verschiedenen Gebäuden der Ausstellung drängten und andererseits dem von der Stadt Kassel bereitgestellten Budget kann man über den beträchtlichen Erfolg der Unterhaltungsindustrie nur staunen. Die Documenta wird fast mit Sicherheit weiterexistieren, aus dem einzigen Grunde, daß sie der Stadt gutes Geld bringt und vermutlich der einzige Grund ist, sie auf den Landkarten zu verzeichnen. Anders als John Miller glaube ich, daß sich die meisten Besucher ausgezeichnet unterhalten (außer den armen Kindern, die hindurchgeschleift werden).

Nachdem ich gehört habe, wie Tom Crow über das große Ungleichgewicht der finanziellen Investitionen zwischen Kunst und Film sprach und die fabelhaften Profitraten des Films mit denen der Computerindustrie verglich, neige ich dazu, das Gebilde zwischen Film und Computer als das perfekte Sinnbild für mein Erlebnis der Documenta zu sehen, nämlich das Fernsehen (die finanziellen Investitionen sind nicht so eindrucksvoll wie im Filmgewerbe, aber dennoch keineswegs unbedeutend, und schließlich hat jeder Computer einen Bildschirm.) Durch die Documenta zu schlendern, hat etwas vom Wandern durch die TV-Kanäle, in der hoffnungsvollen Suche nach irgend etwas, das zu sehen sich lohnt – aber immer vergebens.

Dieses Wandern durch die TV- Kanäle zeigt sich besonders offensichtlich in der Art, in dem hier der von Tom Crow erwähnte Triumph der Installation organisiert ist. Ich habe nicht die Ausstellung in der Hayward Gallery gesehen, von der er sprach; aber gesehen habe ich „Dislocations“ im Museum of Modern Art in New York, eine ganz andere Ausstellung als die Documenta (aber keineswegs erfolgreicher). Bei der Documenta sind die Räume für die Installationen sehr klein, es sind Boutiquenräume. Im MoMA zum Beispiel spielte die Installation von Bruce Nauman, die sehr laut ist und auf eine bestimmte Art die gesamte Ausstellung dominierte, mit der Leere des riesigen zentralen Raumes, wo sie sehr intelligent aufgestellt war. Es war nicht nur eine Installation, sondern ein Durchgang; man mußte hindurchgehen, um den Rest der Ausstellung sehen zu können, und so wurde die Phänomenologie des Zuschauens hervorgehoben, genauso wie die des Video-Apparats – das ist hier total verloren gegangen. Sie steckt in einem kleinen Raum, genauso wie alle anderen Installationen der Documenta. Der Boutiquenraum dieser Installationen läßt sie wie vergrößerte Cornell-Schachteln wirken. Und ich sehe Cornell als einen späten Surrealisten, dessen Arbeit eine Degradierung des Ready-made war, ein Angriff sogar gegen Duchamp, wobei er einige von dessen Strategien gegen ihn selbst anwandte. Bei dieser Documenta erscheint der gegenwärtige internationale Trend der „Installationskunst“ als genau das, was er ist: ein Beiseitewischen aller Fragen, die Duchamp und nach ihm der Minimalismus aufgeworfen hatten, wie auch des interessantesten Teils der Conceptual Art und Performance- Kunst. Es gibt Installations-Künstler, die tatsächlich einigen dieser Fragen nachgehen, aber in Kassel waren sie auffällig abwesend (da Andrea Fraser unter uns ist, und da sie nicht eingeladen war, wird sie vermutlich auch darüber sprechen). Als Beispiel möchte ich Hans Haacke nennen, dessen Installations-Stücke nichts mit dem zu tun haben, was wir in dieser Show geboten bekommen, und ich bin mir sehr sicher, daß er den Hinweis auf Cornell als sehr unfreundlich empfinden würde. Während Cornell seine „Objekte“ als eine Art Portraits seines Unbewußten begriff, sah Duchamp sie als Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Frage der Museumsfähigkeit: er dekonstruierte und demonstrierte zugleich den strukturellen Gegensatz innerhalb der Moderne, zwischen der Welt insgesamt und der Welt der Kunst (und auch nach ihm fragten sich viele Künstler weiterhin nach der Grenze der Museumsfähigkeit – das scheint die Lieblingsfrage der sechziger Jahre gewesen zu sein: kann in einem Museum ein Haufen Schmutz ausgestellt werden, ein Loch in der Wüste, ein Loch in einem menschlichen Körper etc. – die Antwort lautete letzten Endes immer: ja). Einerseits erwies sich das Museum als praktisch unbegrenzt, andererseits wurde die Welt selbst zu einer Art Museum (man denke an die Yuppifizierung unserer Städte), und das Duchampsche Paradigma war in bezug auf die Marktfähigkeit nicht mehr unmittelbar von Interesse. Aber der Markt hat mehr als ein As im Ärmel, und was wir heute erleben, ist eine Art Verdinglichung des Duchampschen Objekts, realisiert über eine Rückkehr zum Surrealismus und seine akademische Vorstellung von Subjektivität: jeder Künstler stellt seine kleinen Objekte in eine vergrößerte Cornell-Schachtel, und man springt, auf der Suche nach dem Seelenfreund, von einer Schachtel zur nächsten. Natürlich haben große Ausstellungen immer den Gedanken der Austauschbarkeit der Kunstwerke zum Thema gemacht (deshalb errichtete Courbet 1855 seinen eigenen persönlichen Pavillon außerhalb der großen Weltausstellung), aber bei der Documenta verstärkt die Unzugänglichkeit der Räumchen, in denen die Installationen dargeboten werden, diesen Effekt: was wir uns ansehen sollen, ist eine Sammlung von Personalia (in der Theorie weitgehend individualisiert), die alle im gleichen Idiom niedergeschrieben sind. Diese totale Verdinglichung der Subjektivität des Künstlers, die unterschiedliche Objekte in zugewiesene Räume fallen läßt (lang nach dem Niedergang der pathetischen Rhetorik des abstrakten Expressionismus), ist die neueste Phase der Kunst unter der durch den Kapitalismus hervorgebrachten entropischen Differenzierung.

Von den Installationen, an die ich mich erinnere, gehörten nur zwei nicht in den gleichen subjektivistisch/isolationistischen Trend: Stephen Prinas Reihe von Fotografien seiner eigenen Show (leere Räume), Fotografien, die von zweien von Flavins Neonkörpern beleuchtet wurden. Es gab nichts zu sehen außer dem Überlappen der Fotografien und Flavins Licht, und das ganze war einfach, aber bewußt als Demonstration dieses Überlappens entworfen (und als Kritik an dem Trend zum „alles in seiner eigenen kleinen Museumsecke“, der hier alles dominiert, wie auch an den Machtstrukturen, die der Kunstwelt und dem Kunstmarkt zugrundeliegen). Das andere war die Hütten-Serie von Kawamata, (die übrigens außerhalb der Orangerie schwer zu finden waren), ein Hinweis auf die obdachlosen Menschen, die von eben jenen kulturellen und ökonomischen Kräften ausgegrenzt wurden, die die Documenta hervorbrachten.

Immerhin weiß ich jetzt, daß ich nie wieder hierherzukommen brauche. Yve-Alain Bois

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning