Der Erfolg der Rezession in Japan

1992 vollzog sich in Japan ein deutlicher Stimmungswandel/ Über die Theorie entdeckten die Japaner die Grenzen ihrer Möglichkeiten und versuchen, die Keynesianer zu überholen  ■ Aus Tokio Georg Blume

Eine sonderbare Theoriewolke verhüllte bislang die Inselwelt unter dem Fudschijama. Unten schien es, als würden die Menschen arbeiten, ohne je nach oben zu schauen. Über den Wolken aber, auf dem Gipfel des Vulkans, hatte sich eine Schar ausländischer Beobachter niedergelassen, die der Welt über das Land der aufgehenden Sonne berichtete. „Die Sonne geht für immer auf“, schrieen einige von ihnen. „Die Sonne geht wieder unter“, tönten andere dagegen. Doch die Japaner unter den Wolken hörten ihre Rufe nicht, und die übrige Welt hatte Schwierigkeiten, die Widersprüchlichkeit ihrer Meldungen zu entziffern. So kam es, daß Japan nur wenig von der Welt und die Welt immer noch wenig über Japan wußte.

Erst in diesem Jahr lichtete sich der Erklärungsnebel. Der Grund dafür lag auf der Hand: Japan schlitterte in die erste selbstverschuldete Rezession seit dreißig Jahren, und die Japaner hatten weniger zu tun. Mit anderen Worten: Sie hatten plötzlich Zeit, über die eigene Arbeit nachzudenken. Sie begannen gar zu theoretisieren, was dem pragmatischem Volk früher meist mißfiel. Einer machte sich dabei zu einer Art Gipfelbesteigung des Fudschijama auf: Yoshikazu Miyazaki, 73 Jahre alt, Ökonom an der Universität Kioto, schrieb das Buch „Die kombinierte Rezession“.

„Geschwollene Theorie“, lästerte das US-amerikanische Wall Street Journal über die neue japanische Nachdenklichkeit. Doch der Erfolg der „kombinierten Rezession“ sagte alles über Geistes- und Arbeitszustand der Japaner im Jahr 1992 aus. Tatsächlich wurde der Theorieschinken in Japan zu einem Bestseller, trotz aller Hindernisse beim Lesen, denn Professor Miyazaki bediente sich eines Gelehrtenvokabulars in chinesischen Schriftzeichen, welches nur die Intellektuellen seiner Generation auf Anhieb entziffern konnten. Dennoch beruhte ein Teil des Bucherfolgs offenbar auch auf dieser schwer zugänglichen Schrift. Diesmal suchten die Japaner nicht mehr nach leichten Erklärungen. Sie erinnerten sich: 1974 war die Ölkrise schuld an der Rezession gewesen, und 1986 war der Plaza Accord der G-7-Gruppe verantwortlich für die Aufwertung des Yens und den folgenden Wirtschaftseinbruch. Jedesmal hatte es eine leichte Erklärung für die Rezession gegeben, und jedesmal ging es schnell wieder bergauf. Heute wissen die Japaner, daß 1992 alles anders war.

Schon der Buchtitel von der „kombinierten“ Rezession versprach ihnen neue Komplikationen. „Sowohl die Rezession in den USA wie die in Japan sind Rezessionen einer neuen Zeit“, belehrte Professor Miyazaki seine Leserschaft. „Denn beide Rezessionen haben im Finanzbereich ihren Ausgangspunkt. Sie sind nicht aufgrund eines Mangels an Nachfrage entstanden.“

Mag sein, daß sich die japanischen Zeitungsleser über diese Ursache des Konjunkturrückgangs Anfang der neunziger Jahre schon vollauf bewußt waren. Doch sie hatten es eher nebenbei wahrgenommen, als eine Neuigkeit wie jede andere. Nun aber verfügten sie über eine umfangreiche Schrift, die das Schicksal ihrer Volkswirtschaft grundsätzlich zu deuten versuchte: kein Börsenpapier, das am nächsten Tag wieder wertlos war, kein Politikerwort, das nach den nächsten Wahlen verdreht werden würde. Jetzt ging es um eine neue Theorie, die man sich im Kopf erarbeiten mußte – dabei schien sich endlich auszuzahlen, daß über 90 Prozent die Oberschule erfolgreich absolvieren. Denn auch die Jugend griff nach dem Band.

„Was Japan und Amerika jetzt erfahren“, fuhr der Professor an anderer Stelle fort, „ist eine kombinierte Rezession in dem Sinne, daß zuerst der Restrukturierungsprozeß im Finanzbereich als Folge der Finanzliberalisierung eine Krise auslöste, welche sich dann durch das Zerbersten der Spekulationsblase auf die Realwirtschaft verbreiterte“.

Das alles finden deutsche Beobachter nicht sonderlich neu. Schließlich hat es sich herumgesprochen, daß die Land- und Aktienspekulation in Japan vor einiger Zeit ein böses Ende nahm, in der Folge Aktien und Landpreise in den Keller sanken, was letztlich auch den Unternehmen, die zuvor an der Börse billig Geld aufnehmen konnten, gehörige Kapitalverluste bescherte. Doch wir müssen uns ein wenig in die Köpfe der Japaner versetzen, um das Außergewöhnliche, das Miyazawa ihnen damit mitteilte, zu verstehen.

Dreißig Jahre Wirtschaftswunder hatten sie hinter sich, davon die Hälfte mit Wachstumsraten über fünf Prozent. Nur 1974 und 1986 lag das Wirtschaftswachstum unter drei Prozent. Diese „Krisen“ überwand man, indem man mehr und besser produzierte. Was also sollte 1992 anders sein? Obwohl er es nicht ausdrücklich schrieb, teilte Miyazawas Bestseller den Japanern diese ernüchternde Antwort mit: „Es reicht nicht, wenn ihr mehr arbeitet. Die Krise ist komplexer. Die ganze Welt hat an ihr teil.“ Diese Botschaft muß für die Japaner so schockierend gewesen sein, daß sie nur im verschlüsselten Wirtschaftschinesisch des Professors ihre Adressaten erreichte. Keinem der ausländischen Schreihälse hätte man diese Wahrheit je abgekauft.

Japans neues Theoriewunder bekam dann einen zweiten Namen: Der „japanische Keynes“ wurde Professor Miyazaki alsbald liebevoll betitelt. Diese Ehre kam ihm deshalb zuteil, weil er als Heilmittel gegen die Krise mehr empfahl als die in Japan bislang akzeptierte Nachfragepolitik des Engländers John Meynard Keynes. „Wenn die Regierung über Gegenmaßnahmen nachdenkt“, heißt es im letzten Kapitel der „kombinierten Rezession“, „ist es wichtig, nicht nur konventionelle Maßnahmen der Nachfragestimulation zu ergreifen, vielmehr sind Maßnahmen nötig, die eine Restrukturierung des Finanzbereichs ermöglichen und den Kreditmangel beseitigen.“

Natürlich war nicht zu erwarten, daß die japanischen Behörden diesen Ratschlag sofort beherzigen würden. Erst im Frühjahr und dann im Herbst dieses Jahres legte die Regierung Konjunkturprogramme ganz im alten Sinne auf: Mit zusätzlichen öffentlichen Investitionen von mehr als 100 Milliarden Mark sollte die Wirtschaft wieder angekurbelt werden. Schließlich aber gab es genug Verantwortungsträger, die sahen, daß diese Maßnahmen nicht reichten. Vielleicht hatten sie bis dahin alle schon den japanischen Keynes gelesen. Jedenfalls gelang es den seit dem Börsensturz besonders angeschlagenen Banken mit Unterstützung der Regierung, noch dieses Jahr eine neue private Finanzgesellschaft einzurichten. Ihre Aufgabe wird es sein, die aus den Spekulationsjahren verbliebenen faulen Kredite zu übernehmen und damit dem allgemeinen Kreditschwund entgegenzuwirken.

„Finanzliberalisierung und globale Deregulierung haben die Grundlagen der keynesianischen Politik zerstört“, befand Miyazaki. Weil er diese Erkenntnis zur rechten Zeit im rechten Land mit der nötigen Autorität und Überzeugung aufschrieb, erwies er der Welt einen guten Dienst. Ende 1992 besteht nämlich die Hoffnung, daß die Japaner nicht mehr nur darauf dringen, sich die Weltwirtschaft zu unterwerfen, sondern sie zuerst einmal zu verstehen. Kann eine Rezession erfolgreicher sein?