„Im Rollstuhl bin ich ohne Chance“

■ Zu Besuch bei ausländischen Behinderten/ An Rückkehr in das Herkunftsland ist meist nicht zu denken/ Die ABM-Stelle des deutschen Helfers läuft im Jahr 1993 aus

Berlin. Berlin-Marzahn, S- Bahnhof Raoul-Wallenberg-Straße. Plattenbau, so weit das Auge reicht. Farbe ins Bild bringt einzig der rote S-Bahn-Zug, der sich langsam entfernt, und das Plakat der Ausländerbeauftragten: „Miteinander leben in Berlin“. Zehn Minuten zu Fuß entfernt, vorbei am neuen Supermarkt und dem vietnamesischen Zigarettenhändler, zwischen einem Zeitungsladen mit der Leuchtschrift „Happy Shop“ und einem „China-Imbiß“, liegt der Hauseingang Nummer 42. Hier wohnt MarcusM. aus Mosambik. Bis die Tür im ersten Stock aufgeht, dauert es eine Weile. Marcus M. kann sich nicht schnell bewegen, er ist querschnittsgelähmt.

Er öffnet im Rollstuhl sitzend. Er kennt den Gast, der ihn besuchen kommt. Horst Böhmer vom „Beratungszentrum für ausländische MitbürgerInnen“ in Friedrichshain hat ihm geholfen, diese Wohnung zu finden. Heute bringt Böhmer nicht nur einen Journalisten mit, sondern auch Nachrichten aus der Heimat, Grüße von den Eltern. Markus rollt an den Couchtisch des Wohnzimmers. Hier liegt jedes Stück an seinem Fleck. Ordentlich aufgereiht stehen Videos beim Fernsehapparat; wohlgeordneter Schnickschnack in der Glasvitrine. In die DDR kam Marcus 1987 als Flüchtling vor Armut und Perspektivlosigkeit im Rahmen von Regierungsabkommen mit sozialistischen Bruderländern. Damals war er 18 Jahre alt, kerngesund und fußballbegeistert. Im Radio, so erzählt er, hörte er, daß Arbeitskräfte für die DDR gesucht wurden – sofort war er dabei.

Wohnheim in Hohenschönhausen, Vier-Schichten-System im Glaswerk Berlin, Wochenendarbeit. Die Arbeit ist hart, aber für DDR-Verhältnisse gut bezahlt. Es gibt einige Mosambikaner, man kennt sich. Im Oktober 1989 kommt die Wende. Lange vor der Wiedervereinigung, schon im Februar 1990, werden im Glaswerk die ersten Vertragsarbeiter entlassen, auch MarcusM. soll gehen. Seine Freundin trennt sich von ihm, eines Abends dreht er durch, betrinkt sich, sieht keinen Ausweg mehr, stürzt sich aus dem vierten Stock des Wohnheims in Hohenschönhausen. Über diese Nacht redet er nicht gern. Nervös zündet er sich eine neue Zigarette an, rutscht auf dem Rollstuhl hin und her. „Ich weiß nicht mehr genau, wie das war“, sagt er, sucht nach den deutschen Worten. Aufgewacht ist er erst wieder im Krankenhaus.

MarcusM. überlebt mit Knochenbrüchen und schweren Verletzungen der Wirbelsäule. Er bleibt querschnittsgelähmt. Sein Unfall sichert ihm das Aufenthaltsrecht, doch es vergeht viel Zeit, bis er wieder Willen zum Leben gewinnt.

Grüße aus Mosambik

Vor dem Fenster seines Wohnzimmers, nach hinten heraus, toben Kinder auf dem Schulhof der „24. Grundschule“, es ist große Pause. An der Wand hängt ein Poster, Reggae-Star Bob Marley raucht einen Joint. Horst Böhmer, der deutsche Helfer, ist gerade aus Mosambik zurückgekehrt und berichtet MarcusM. von den Sorgen, die dessen Familie plagen. Böhmer hat ein Geschenk der Mutter mitgebracht, gebrannte Cashewnüsse in einer Plastiktüte. Als Böhmer erzählt, wie er bei Kerzenlicht mit den Eltern zusammengesessen hat, huscht zum ersten Mal ein Lächeln über Marcus' Gesicht. Die Mutter ist Landarbeiterin und arbeitslos, auch der Vater hat nur Gelegenheitsjobs. Das Geld, das MarcusM. aus der DDR nach Hause geschickt hatte, ist verbraucht. Für den sozialen Aufstieg der Familie hat es nicht gereicht.

An Rückkehr ist für MarcusM. nicht zu denken. „Es ist für alle schwierig in Mosambik. Aber so“, er deutet auf seine dünnen, muskelarmen Beine, „habe ich überhaupt keine Chance.“ Wo seine Familie wohnt, gibt es keine gepflasterten Straßen, er würde sich mit dem Rollstuhl nicht bewegen können. Auch in Deutschland ist die Fortbewegung nicht einfach. „Für ausländische Behinderte ist es noch viel schwieriger als für Deutsche, zum Beispiel eine Telebus-Berechtigung zu bekommen“, erklärt Horst Böhmer. Er betreut in der Friedrichshainer Beratungsstelle 24 behinderte Ausländer und hat viele Kämpfe mit den Behörden ausgetragen. „Einmal ist ein Afghane, dem beide Beine amputiert worden waren, als nur 10 Prozent behindert eingestuft worden. Damit kriegt er nicht einmal den Schwerbehindertenausweis!“

Von Marzahn fahren wir nach Pankow, zur „Oase“, einer anderen Beratungsstelle. In der S-Bahn erzählt Böhmer von seinen Plänen. Er hält Kontakt zu der Behindertenorganisation in Mosambik, will dort Werkstätten aufbauen, Arbeitsmöglichkeiten für Behinderte schaffen. Dabei weiß er nicht, was aus seinem eigenen Arbeitsplatz im nächsten Jahr wird. Wie so viele in den neuen Bundesländern ist auch seine Stelle ABM-finanziert, und sie läuft 1993 aus. Es ärgert ihn, daß heute niemand mehr für eine Behandlung nach Deutschland kommen kann. „In der Charité sagen sie nur, sie haben genug deutsche Patienten.“

Zweiter Hinterhof, der Putz fällt von den Wänden, ein Müllcontainer brennt, es stinkt. Erst drinnen in der „Oase“ kommt an diesem kalten Dezembertag eine gemütliche Atmosphäre auf, Deutsche und Ausländer sitzen beim Tee zusammen, reden und lachen. Dort treffen wir Wahab. Er ist aus Afghanistan in die DDR gekommen, im September 1989, genau zwei Wochen vor dem 40.Jahrestag. „Ich hab' nichts von dem mitbekommen, was hier los war“, sagt Wahab, „ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt.“ Der breitschultrige Mann mit dem großen, offenen Gesicht kam zur Behandlung eines Tumors im Knie in die DDR. Ein paar Wochen würde er bleiben, dachte er, im Klinikum Buch, „Ausländerstation“ 303a. Dort wurden Kranke aus Mosambik, Angola, Afghanistan, Nicaragua behandelt, genauso wie Kriegsverletzte des südafrikanischen ANC oder der salvadorianischen FMLN-Guerilla.

Im Dezember 1989 wurde Wahabs linkes Bein amputiert, „da wurde mir klar, daß ich noch länger hier sein würde.“ Er blieb ein Jahr im Klinikum, bis ihm das Krankenhaus eine Wohnung vermittelte und er lernte, mit der Behinderung draußen zu leben. Mit den Gehhilfen ist er zügig unterwegs. Wahab spricht gut deutsch, erzählt flüssig, sieht einem direkt in die Augen. Seine Mundwinkel verraten, daß ihn die Fragen belustigen. Er weiß, worauf der Journalist hinauswill. Lächelnd sagt er, daß er die deutschen Behörden immer als sehr freundlich empfunden hat. „Mit Deinem Charme wickelst Du ja auch alle um den Finger!“ unterbricht eine deutsche Mitarbeiterin. „Der ist überhaupt nicht typisch! Wenn andere stundenlang bei der Ausländerbehörde anstehen, kommt er nach zwei Minuten mit dem Visum wieder raus“, erzählt die Deutsche. Wahab grinst.

Er will zurück nach Afghanistan, aber er hat auch Angst davor. Er, der in Kabul als Moderator bei „Radio Afghanistan“ gearbeitet hatte, fühlt sich durch den Regierungswechsel in seiner Heimat heute als politischer Flüchtling. Sein Bruder, erzählt er, sei vor fünf Monaten von der neuen Regierung erschossen worden – er war Parteimitglied. Auch der Rest seiner Familie ist aus Afghanistan geflüchtet, nach Moskau. Chancen, in Deutschland als AsylbewerberInnen anerkannt zu werden, hätten sie nicht, sagt Wahab.

Wahab arbeitet heute in der Beratungsstelle „Oase“ und kennt sich aus mit dem deutschen Ausländerrecht. Er finde die jüngste Verfassungsänderung ganz richtig, sagt er augenzwinkernd: „Flüchtlinge brauchen ein sicheres Land, und das ist Deutschland nicht. Vielleicht ist es besser, wenn sie dann gar nicht erst reinkommen.“ Bernd Pickert

Die „Beratungsstelle für ausländische MitbürgerInnen e.V.“ bittet um Spenden für die Arbeit mit behinderten AusländerInnen auf das Konto 0513041532 bei der Berliner Sparkasse (BLZ 10050000), Kennwort „Beratungsstelle Behinderte“.