Abdankende Väter

„Iphigenie in Freiheit“ von Volker Braun in den Cottbusser Kammerspielen uraufgeführt  ■ Von Berthold Rünger

Sucht Volker Braun einen neuen Weg? Recht papiern war „Böhmen am Meer“ als ost-westliches Konversationsstück über das Ende des Kalten Krieges geraten. Die Erstinszenierung von Thomas Langhoff, noch zu sehen am Berliner Schiller Theater, vermochte nichts zu retten. Unter wolkigen Gedanken verfiel man bestenfalls in ein mediterranes Dösen und folgte je nach Laune dem Geplauder des Emigranten Pavel und des Industriellen Bardolph. Die sprachliche Dichte, die Nähe zu Menschenschicksalen und die Mannigfaltigkeit seiner „Übergangsgesellschaft“, die seit zehn Jahren am Berliner Maxim Gorki Theater läuft, schien Braun nach der Wende nicht mehr zur Verfügung zu stehen.

„Iphigenie in Freiheit“ setzt das Thema von „Böhmen am Meer“ fort. Die Menschen sind aus dem Sozialismus in eine verrotte westliche Welt geraten. Doch geht es Braun jetzt um neues sprachliches Material und weniger um die Gestaltung von Themen. „Iphigenie“: das sind vier dramatische Sprachblöcke in einer Figurenkonstellation. Thoas hat sein Reich („Europas bestes Stück“), in dem die griechische und goethische Iphigenie als Tempelvorsteherin lebt, ruiniert. Iphigenies Brüder Orest und Pylades brechen als verrohte und plündernde Befreier ein. („Zieh sie aus dieser blutigen Gosse, Mann/ und zeige ihr, wo Gott wohnt bei den Griechen/ in der Fotze.“) Als griechisch-goethische Figur kann Iphigenie sich weder in den alten noch in den neuen Verhältnissen halten und wird zur „Dreckgestalt“, eine wahre, leidenschaftliche, zum erstenmal in der Realität angekommene, aber in einer entsetzlichen.

Das Verfahren, mit Momenten griechischer Erzählung zugleich abstrakte wie familiär beziehungsdichte Strukturen aufzunehmen und mit obszönen, provozierenden Bildern zu modernisieren und pathetisch aufzuladen, erinnert an Heiner Müller. In den Cottbusser Kammerspielen ist eine sorgfältige, das Plakative, Aggressive und Depressive steigernde Inszenierung dieses Textes zu sehen. Das Publikum sitzt wie in einem Amphitheater auf Holzstufen und Kissen einer vernichteten Landschaft gegenüber. Der rostbraune Zaun an den Bühnenseiten umfaßt noch die Sitzplätze und erinnert an die DDR-Grenzanlagen. Darin hängt eine schwarze Stoffpuppe. Der Bühnenraum ist schwarz, der Boden mit tiefschwarzem Staub bedeckt. Am Rande lehnen leuchtende Symbole der SED-Herrschaft.

Ein gemischter Chor in schwarzen Overalls, halb rezitierend, halb szenisch darstellend, evoziert in zwei Vorspielen, („Hydre intime. Familienleben“ und („Verbannt nach Atlantis“) den fortwährenden Militarismus der Väter und die Wiedervereinigung der Brüder und Schwestern. Der militärisch aufgereihte Chor agiert in aufreizender Primitivität. Die Männer schießen in die Wüste, die Frauen beugen sich schützend über eine riesige Stoffpuppe auf einem Kinderwagen. Dann reißen die Männer die Puppe in Stücke. Im zweiten Vorspiel gehen die bundesdeutschen Brüder und Schwestern suchend und tastend aufeinander zu. Das „Du bist meine Schwester und du mein Bruder“ lädt sich alsbald mit Überdruß auf, kindlich einfaches Spiel zeigt die familialen, unmittelbaren Emotionen, Liebes-, Geborgenheits- und Versorgungswünsche, den ab- und ausgrenzenden Haß.

Für „Iphigenie“ treten danach einzelne aus dem Chor heraus, die übrigen lagern als bettelnde Roma am Rande. Thoas steht mit schmerzverzerrtem Gesicht und einem leuchtendem Abzeichen auf der Brust wie eine Lenin-Statue. Darum herum randalieren Orest und Pylades im silbrig seidenen Jackett: „Was ist das. Marmor. Eine Statue. Aus Gips. Oyplades. Tatsächlich tot. Oder antik. Eine Antiquität, wie man sie handelt jetzt.“ Die stoische Vaterfigur wirkt ehrwürdig, wer mindestens Backpfeifen, wenn nicht mehr verdient, sind die Westler. Iphigenie kauert im Vordergrund, schminkt sich mit roter und schwarzer Farbe das Gesicht zu und flüstert ihren Monolog dem Publikum ins Ohr, als dürfe ihr Schlachtbericht nicht laut gesagt werden, als handele es sich um ein besonders wertvolles Geheimnis.

Doch Volker Braun kommt es nicht auf Reflexion an, die er angesichts absurder Zustände für entbehrlich zu halten scheint. So kennt der Jähzorn keine Grenzen. Ein wirkliches Ereignis, die unachtsam begonnene Errichtung eines Supermarkts auf ehemaligem KZ-Gelände im brandenburgischen Ravensbrück, wird im dritten Sprachblock zum „Geländespiel“. Antigone schiebt ihren toten Bruder im Einkaufswagen durch den Supermarkt. Bei fröhlicher Musik versperrt ihr der Tanz der Einkaufswagen den Weg. „Hier kannst du ihn nicht begraben.“ Allerhand Sprüche des Chores mit Papiermützen von „Kaiser“ – ein „Warenfriedhof“ am Rande der Stadt – folgen, wie sie derzeit gegen jedwede Außenseiter der Gesellschaft zu hören sind. Ein Bodeneinbruch läßt alle in einer hellrot leuchtenden Grube verschwinden. Begeisterte Rufe: „Hier gibt es mehr. Mehr als genug.“ Die Illustration des Textes steigert sich bis zur Deutlichkeit des Kasperle- Theaters, ohne jedoch eines zu sein.

Spannend sind die sorgsam angelegten Bilder, in denen Feindlichkeit ungefiltert und schauspielerisch präzise artikuliert. Daneben entgleist einiges zu inhaltsloser Drastik. Ein Oval zeigt lange auf der Frontseite „SED“, kurz vor dem Ende wird es umgedreht, zu lesen ist „CDU/SPD“. Lachen im Publikum.

Nur wurde in Ravensbrück wie für den Supermarkt ein Ersatzgrundstück gefunden: Die Verhältnisse wären benennbar und korrigierbar. Nicht aber in Brauns depressiver Interpretation. Die Cottbusser Inszenierung läßt Iphigenie noch flüstern, als sei das Sehen und Sprechen immer noch strafbar. Dabei wird es nur subventioniert.

Die Inszenierung zeigt, wie die Welt patriarchalischer Empfindung gemäß aussieht: Was an westlichem Lebenskampf zu sehen ist, spricht jeder denkbaren Humanität Hohn. Und was Braun an Verachtung der Bevölkerungsmassen, die sich vom Sozialismus abgewandt haben, aufbringt, das verstärkt Liefers Regie durch das Zitieren wirren Geschreis aus den Herbst-Demonstrationen in der Lautsprecheranlage. Wenn die väterliche, beherbergende Partei- und-Wahrheits-Ordnung der Welt sich aufgeben hat – „Prost Gorbatschow!“ – dann kann offenbar nur das Chaos folgen, das ruinöseste Ende von allem.

Volker Braun: „Iphigenie in Freiheit“. Regie: Karlheinz Liefers, Bühne: Martin Fischer, Kostüme Andrea Eisensee; Kammerspiele Cottbus, nächste Aufführungen: 16.1/10.2.1993