Wohin mit uns?

■ Ausländische Korrespondenten über die Lage der Deutschen

Wohin mit uns?

taz: Ausgehend von 1989, dieser enormen Zäsur, deren Auswirkungen wir erst jetzt erleben: Hat Sie, als ausländische Korrespondenten, das Ausmaß rechtsradikaler Gewalt überrascht?

Marc Fisher: Nein. Die größte Überraschung für mich war, wie die Regierung reagierte bzw. nicht reagierte. Das zeigt mir die Unsicherheit über die deutsche Demokratie. Daß es Rechtsradikalismus gibt, war keine Überraschung.

Leslie R. Colitt: Der Fehlschluß war, daß Kohl sich seiner Sache immer sicher zu sein glaubt. Übersicher. Deswegen reagiert er so, als ob alles überhaupt nichts bedeutet.

Pjotr Olszowka: Die Deutschen wollen unglaublich prinzipiell sein – in allem. Sie wollen prinzipiell demokratisch sein und wollen prinzipiell alles akzeptieren, auch die Fehlentwicklungen in der Gesellschaft. Das geht dann so weit, daß man keine Kritik zuläßt, und auch die Gegenreaktion wie bei der Ausländerfrage ist dann extrem und erlaubt keine Schattierungen.

Colitt: Als Ausländer habe ich in all den Jahren, die ich hier arbeite, vieles anderes erlebt in Berlin. Hier fand ich einen hohen Grad von Toleranz gegenüber Ausländern. Als dann die deutsche Bevölkerung in den Kleinstädten in Ost- und Westdeutschland dieses furchtbare Schweigen, dieses stille, ominöse Nicht-Teilnehmen zeigte, dachte ich: Oh, das sieht hier sehr schlecht aus. Dann, als die jungen Leute in München und in Hamburg selber etwas gegen diese Regierung taten, atmete ich zum ersten Mal auf. Denn ich hatte gedacht: Warum bin ich hier überhaupt? Wenn es keine Hoffnung auf diese Jugend gibt, denn was gibt es sonst? Diese Hoffnung ist bestätigt worden, das ist das einzige, was in diesem Land zur Hoffnung berechtigt.

Gerade die Tendenz, Parallelen zu Weimar zu ziehen, finden ausländische Beobachter nachvollziehbar und verständlich. Inwiefern haben Sie an diesen Weimar-Diskussionen teilgenommen und glauben, daß dies etwas sehr spezifisch Deutsches sei?

Fisher: Das war Thema der deutschen Presse. Es gibt eine Tendenz unter deutschen Intellektuellen und der Presse, diese Parallelisierung vorzunehmen – in einer Art Selbstbezichtigung und Stigmatisierung. Wenn man immer noch historisch parallelisiert, besteht die Gefahr, das Spezifische der heutigen Probleme zu verstehen.

Olszowka: Ein Satz zu den polnischen Reaktionen: Es war erstaunlich, wie lange sie zurückhaltend waren, ganz vorsichtig. Sie waren in dem Tenor gehalten: es passiert überall, man sollte nicht nervös reagieren.

Fisher: Die ausländischen Korrespondenten hier in Deutschland haben eine sehr unübliche Verantwortung, insbesondere gegenüber dem Rechtsradikalismus. Die deutsche Presse – mit wenigen Ausnahmen – hat diese Gewalt monatelang ignoriert. Für uns war das sehr unbequem, nach Hoyerswerda all diese Berichte anzufertigen. Ein Jahr lag zwischen Hoyerswerda und Rostock, und man las sehr wenig in der deutschen Presse. Ich habe mich gewundert darüber.

Colitt: Aber es gibt doch eine Tendenz in Deutschland, wegzuschauen, wenn etwas Unangenehmes geschieht. Bei Menschen und bei Zeitungen. Ich kann mich an ein Erlebnis in Ostdeutschland erinnern vor 15 bis 20 Jahren. Ich ging mit einem Kollegen der BBC durch eine Fabrik, und er stolperte an einer brüchigen Treppe: Der Mann der uns begleitete, sorgte sich nicht um den Runtergefallenen, sondern erklärte uns, daß die Treppe eigentlich immer schon so war. Statt zu helfen, wollte er sich aussprechen. So ähnlich ist es doch auch heute: Da wurden Wohnungen in Brand gesetzt, Menschen bedroht, und die Leute interessierten sich mehr für die Auseinandersetzung mit der Polizei. Das hat uns als Auslandskorrespondenten sehr gestört.

Olszowka: Das Problem ist eines, das sich uns als Menschen stellt. Wir nehmen zwei Wirklichkeiten wahr. Diesen Normalitätsschleier, durch den wir blicken. Es geht nicht um das, was in den Zeitungen steht, sondern um die nackten Tatsachen. Es kann jederzeit passieren, daß der Damm bricht, die Gewalt ist latent da.

Aber es ist doch auch ein deutsches Problem, zumindest haben wir auch deswegen diese Runde veranstaltet. Ist diese Demokratie in der Krise?

Fisher: Krise, weiß ich nicht. Es gibt eine politische Krise, aber nicht eine der Demokratie. Man kann fragen, ob Deutschland eine stabile Demokratie ist, man hätte die Frage vor drei, vor sechs Jahren stellen können. Man kann sich den Aufstieg der Republikaner betrachten, man kann sich auch das Rechtssystem anschauen. Es gibt viele Gesetze in Deutschland seit 1945 zum Schutz der Demokratie, die kaum eine andere Demokratie braucht. Es ist ein Land mit einer jungen Demokratie, die noch nicht etabliert ist. Das ist keine Krise, sondern ein dauernder Prozeß, das, was Deutschland ist. Man sollte das nicht dramatisieren.

Colitt: Aber was macht überhaupt eine Demokratie aus? Wer rettet sie vor den eigenen Fehlern? Das ist meistens die Opposition, die in Amerika den Vietnamkrieg beendet hat. Die Regierung versagte nur, immer, auch der Kongreß. Alle Institutionen des Staates versagten, nur die wache Bevölkerung nicht. Das ist genauso in Deutschland. Die Regierung versagte total, der Bundestag, die Presse spielte vielleicht eine positive Rolle.

Fisher: Eine Krise braucht schnelle Lösungen. Die ganze Asyldebatte war ein Aufruf für schnelle und einfache Lösungen, die es nicht gibt, gerade nicht in der Einwanderungsfrage. Das ist eine permanente Frage. Krise meint Not, heißt Polizei, schnelle, einfache und dumme Lösungen.

Glauben Sie, daß die schnell vollzogene Vereinigung gescheitert ist? Hat das Ausland nun Angst, daß mit diesem vereinigten Deutschland doch einiges nicht stimmen könnte?

Fisher: Es muß eine erfolgreiche Vereinigung geben. Das wird Jahrzehnte dauern. Ostdeutschland ist der Testfall für ganz Osteuropa. Daher ist die Haltung der Bundesregierung, alles in Kauf zu nehmen, unverständlich. Nicht nur in Bonn zu sitzen und nichts zu tun, wenn die geistige und psychologische Spaltung tiefer und tiefer wird. Man tut nichts. Diese Regierung hat keinen Sinn für PR. Dieser Stolz, keine symbolische Geste zu vollbringen! PR würde helfen, man könnte den Leuten im Osten vermitteln: Ja, wir haben große Probleme, aber wir haben auch Fortschritte gemacht.

Olszowka: PR in Deutschland heißt „Peinliche Reaktionen“. Alle in Osteuropa unterdrücken jede Überreaktion und Kritik an Deutschland, damit es hier gut läuft.

Colitt: In Osteuropa sehe ich manchmal erfolgreichere Entwicklungen als hier, eben weil es nicht dieses Ost-West-Problem gibt. Die Tschechen bleiben Tschechen, die Polen Polen. Und erst recht die Ungarn, die haben sich durch 40 Jahre Kommunismus nicht geändert. Die kommunistische Herrschaft dort war auch anders. Alles, was dagegen war, das Unternehmertum etwa, das gab es nicht in Ostdeutschland. Nur eine breite Masse, die nichts sagte.

Herr Fisher, Sie sagten, Sie vermißten in der offiziellen Politik ein Gefühl für Zeichen. Die Bundesregierung fällt, was die symbolische Ebene betrifft, ganz aus. Muß nicht die Gesellschaft Zeichen entwickeln? War es nicht folgerichtig, daß die von der Regierung initiierte Demonstration in Berlin schiefgehen mußte, die von unten mobilisierten jedoch ein glatter Erfolg?

Fisher: Es muß eine Botschaft von unten kommen. Man muß Politik auf beiden Ebenen betreiben. Wir leben aber alle in einer Mediengesellschaft, wir müssen dieses semiotische, symbolische Medium annehmen. Auch die Regierungen müssen mit der Bevölkerung durch diese symbolischen Gesten kommunizieren.

Es wäre Ihnen recht gewesen, wenn Kohl nach Mölln eine Fernsehansprache gehalten und sein Bedauern und seine Scham ausgedrückt hätte?

Fisher: Zu spät, viel zu spät. Nach Hoyerswerda vielleicht.

Olszowka: In dieser durchmedialisierten Welt ist das Schweigen auch ein Zeichen.

Fisher: Nun, die Leute würden sagen, Kohl war im Fernsehen, und was er sagte, stimmt.

Die Demokratie ist also auf glaubwürdige Vertreter angewiesen. Das System ist nicht so weit zu rationalisieren, daß wir sagen, das sind Verwaltungsangestellte, die Probleme verhandeln.

Olszowka: Demokratie muß mit Menschen gemacht werden. Und mit glaubwürdigen, nicht mit Robotern. Man muß von ihnen erwarten, daß sie glaubwürdig sind, was nicht heißt, daß man das auch bekommt. Aber das ist das Gebot der Vernunft, daß man viel erwartet, aber mit wenig zufrieden ist.

Colitt: Dann kommt die Frage, warum erwarten wir mehr von den Deutschen? Ich habe mit Jens Reich gesprochen und fragte ihn, warum macht er hier nicht Politik, Konkretes? Wir wollen ja nicht die Macht, sagte er. Das war doch das Versagen der Intellektuellen. Sie haben geträumt von einem idealen Deutschland, einem menschlichen. Das war nur ein Traum.

Fisher: Die Angst vor Führung ist sehr gefährlich. Bei Leuten wie Engholm und Lafontaine und auch in der CDU. Wenn sie mit denen privat sprechen, ist alles o.k. Sie haben Angst, Führungskraft zu zeigen. Das ist ein besonderes deutsches Problem.

Wir veröffentlichten vor zwei Wochen einen Aufsatz eines deutschen Soziologen namens Schiffauer, der einen Vergleich unter vier Gesellschaften anstellte, u.a. der amerikanischen und deutschen. Er kam zu solch einer Quintessenz: Für die deutsche Politik sei es bezeichnend, daß es wenig Vertrauen in harte Auseinandersetzungen gibt. Es müßte möglich sein, ein hartes Argument auszutauschen. Für Schiffauer bezeichnend ist der Rat der Weisen, diese fünf Wirtschaftswissenschaftler, die den Tarifparteien den Rahmen der Verhandlungen vorgeben, in dem überhaupt tarifpolitisch diskutiert werden darf. In anderen Gesellschaften sei das Vertrauen in den offenen Austausch von Partikularinteressen weitaus größer.

Colitt: Konsenspolitik hat aber auch Vorteile und Schwächen, wenn es zu einer Krise kommt.

Fisher: Gestern schrieb ich einen Bericht über das deutsche Gesundheitssystem, ob dies ein Modell für die Amerikaner sein könnte. Ein zentraler Teil des deutschen Gesundheitswesens ist die Verhandlung zwischen Ärzten und Krankenkassen. Das ist bei uns unvorstellbar. Aber hier läuft es, und zwar gut, doch mit wenig Spielraum. So ist es fast in jedem Teil der Politik: wenig Spielraum. Und wenn dann etwas verändert werden muß, etwa bei den Blauhelmen, der Ostwirtschaft, kommt gleich die Krise.

Colitt: Das kommt, weil man nicht improvisieren kann. In der deutschen Gesellschaft gibt es kaum Raum für Improvisation, weil man perfektionistisch sein will. Im Grunde genommen funktioniert in Amerika nichts, und in Polen noch weniger (lacht). Aber in Krisenzeiten geht es uns am besten. In Deutschland ist es genau umgekehrt.

Olszowka: Die Wiedervereinigung hat etwas Erstaunliches gezeigt. Daß nämlich ein solch bahnbrechendes historisches Ereignis so wenig ändert in einer Gesellschaft.

Colitt: Ich habe hier in Berlin den Bau der Mauer erlebt. Was mir im Gedächtnis geblieben ist: daß 80 Prozent der Leute am nächsten Morgen zur Arbeit gingen. Und ich dachte, wenn das geht, ist alles möglich...

Schiffauer sagte auch, es gehöre zur amerikanischen Identität, daß der, der zuletzt komme, vielleicht sogar der beste Amerikaner ist. Es gibt Kreativität, die Aufnahme Fremder, die permanente Erneuerung einer Gesellschaft. In Deutschland wird genau umgekehrt verfahren, wer lange da ist, ist am deutschesten, wer zuletzt kommt, braucht viele Generationen, um hier angenommen zu werden.

Fisher: Bei uns in Amerika, kann jeder theoretisch machen, was er will. Wenn nicht, eigene Schuld. Hier gibt es diese Solidaritätsmentalität, wirklich toll, ein Modell für alle im sozialen Bereich. Der enge Spielraum aber macht neue Situationen schwierig.

Aber die Frage ist doch, ob es eine Gesellschaft gibt, die sowohl solidarisch ist als auch gleichgültig? Korrespondiert eine gewisse Gleichgültigkeit dem Schicksal einzelner gegenüber mit einer gewissen Offenheit aller?

Fisher: Wir sind das andere Extrem.

Olszowka: In Polen ist dies eine neue Erfahrung mit den Fremden – nach dem Krieg, meine ich. Die Deutschen haben dies ermöglicht und auch Rußland, das die Polen praktisch ohne Minoritäten zu einer Nation macht. Und nun kommen Leute, vor allem Rumänen und Russen, die kurzfristig kommen. Sie etablieren sich in verschiedenen Bereichen, oft im Handel, Schwarzarbeit, Kriminelle, Ärzte. Sie kommen in die Gesellschaft, und was passiert? Sie werden ziemlich offen aufgenommen, sie werden akzeptiert.

Glauben Sie, daß sich mit den Demonstrationen gesellschaftlich einiges in Bewegung setzte und daß die Politik dies begriffen hat? Etwa eine Normalisierung in die Richtung hin, daß man damit rechnen und leben muß, nach den nächsten Bundestagswahlen die Republikaner im Parlament zu haben?

Fisher: Noch nicht. Diese Überwachung der Republikaner zeigt, daß die Regierung nicht bereit ist, deren etwaigen Gang in den Bundestag zu akzeptieren. Das ist schade, weil sich darin auch viel Unsicherheit ausdrückt. Weil man der Bevölkerung nicht traut.

Es gibt vom deutschen Soziologen Uli Beck die These, diese Gesellschaft organisiere sich neu, weil der äußere Feind verloren sei. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik, sondern für die ganze Welt. Glauben Sie, daß das Fehlen des äußeren Feindes für die jetzigen Spannungen mit verantwortlich ist? Glauben Sie, daß die Gesellschaften, aus denen Sie kommen, sich auch neu arrangieren müssen?

Olszowka: Die deutsche Gesellschaft schon, das dauert schon zehn Jahre, nicht erst seit 1989. Ich beobachtete das auch am Beispiel der Kunst in Polen, wo sie in einer tatsächlichen Avantgardesituation war. Sie verhielt sich anders, hat nicht gegen den Kommunismus gekämpft, sondern setzte sich über die Regime hinweg. Ich nenne das nach Peter Weiss das Ende einer „Ästhetik des Widerstandes“, nicht nur in der Kunst war diese Ästhetik im Sinne eines Paradigmas des Widerstandes gegenüber den Regimen, der Obrigkeit, ausgeschöpft.

Colitt: Jetzt kommen die Probleme, die näher am eigenen Leib sind, die ewigen Probleme der Ungleichheit. Wir hatten nie einen Bismarck, der aus Angst vor den Sozialisten die Sozialversicherung einführte. Ein sehr kluger Praktiker. Wir hatten eben immer an das Überleben, mehr an Darwin geglaubt. Das funktionierte mehr oder weniger, weil man immer vergaß, daß 90 Prozent der Amerikaner immer unten blieben. Der amerikanische Traum war immer eine Illusion, und doch funktionierte er, weil die Menschen diese Träume brauchten. Jetzt fragen sie zum ersten Mal, ob der Traum nicht doch ausgeträumt ist.

Fisher: Soziale Fragen und Themen können wir doch nur dank der fehlenden Feinde stellen. Ohne sie kann man die Realität besser sehen.

Sollen wir die Utopie, daß wir uns im Paradies begegnen, mit nach Hause nehmen?

Olszowka: Ich wollte schon fast sagen, in der Hölle... (alle lachen) Moderation: Elke Schmitter

und Andrea Seibel