Eklig im familiären Exil

■ Molly Keanes böse „böse Geschichte“

R: „Von Kaninchen wird ihr schlecht. Selbst beim ersten, das Master Hubert mit seinem ersten Gewehr geschossen hat. Sie hat's nicht runtergebracht.“

A: „Das ist eine Ewigkeit her. Und ich weiß, daß sie seither Kaninchen oft und gern gegessen hat.“

R: „Sie hat Kaninchen nie gemocht.“

A: „Besonders, wenn sie es für Huhn hielt.“

A steht für Aroon, Tochter der Frau, die bereits auf Seite acht ihr Leben aushaucht. Der Zustand der kränkelnden Mrs. St. Charles verschlechtert sich angesichts eines von der Tochter extra für sie pürierten Karnickels. Sie muß sich übergeben und stirbt.

R steht für Rosa, Mädchen für alles im Hause St. Charles: Köchin für die Familie, Krankenplegerin und (Seelen-)Freundin von Mrs. und Mr. St. Charles.

„Eine böse Geschichte“ beginnt mit dem Ende dieser Geschichte, erzählt aus der Sicht der Tochter des Hauses. Sie erklärt, wie alles kam: Aroons Erinnerung setzt an dem Punkt ihrer Vergangenheit lebhaft ein, als die Gouvernante Mrs. Brock Mitglied des Haushalts wird. Diese Erinnerung ist von zentraler Bedeutung, da sie das Fundament abgibt für jenes Gedankengebäude der Ich-Erzählerin, das der Heldin Zuversicht und Hoffnung gibt (und das die Anglistik wohl in die Kategorie „Lebenslüge“ einreiht).

Mrs. Brock war Lehrerin im Haushalt der befreundeten Familie Massingham. Richard, einer ihrer Schützlinge, hätte seiner Herkunft gemäß besser gelernt, wie man reitet oder sonst einer der Tugenden eines Edelmannes frönt. Da er Gedichte lesend erwischt wird, muß Mrs. Brock, verantwortlich für diese Dekadenz, entlassen werden. So kommt sie zu den St. Charles und wird dort zum ruhenden Pol der Kinderstube. Mrs. Brook stellt die nicht adelige Aroon dar: beide sehnen sich nach Liebe, die sie nicht im ausreichenden Maß zu bekommen kpnnen.

Mr. St. Charles hat die Angewohnheit, neben seiner Gattin eine Vielzahl von Frauen mit seinem Charme zu beglücken. Als Mrs. Brooks Arbeitgeber seine Liaison mit ihr beendet, nimmt die Gouvernante das Schicksal der Heldin in Kate Chopins Romans „Das Erwachen“: Sie schwimmt zu weit hinaus und ertrinkt.

Aroon wird aus Sparsamkeitsgründen (natürlich kann in diesem irischen Haus, ganz wie bei Ivy Compton-Burnetts Engländern, niemand haushalten) nicht standesgemäß in die Gesellschaft eingeführt. „Ich weiß, ich bin groß, aber ich bin schließlich trotzdem ein Mädchen und keine Witzfigur“, ermutigt Aroon sich selbst vor dem einzigen Ball, den sie besucht. Sie schämt sich vor Rose, „weil sie gesehen hatte, wie ich mich am Bettgestell festgehalten und meine kräftigen Beine zur Musik hochgeworfen hatte. Sie mußte meine Brüste bemerkt haben, die wie Gelee in Seihtüchern hin- und herschwangen.“

Aroon wartet unausgesetzt auf Richard, mit dem sie über Mrs. Brook redet. Der Vater stirbt, die Mutter ebenso, und Richard kommt nicht. Richard, insinuiert der Roman, ist homosexuell und deshalb nach Afrika ins Exil gegangen. Aroon belügt sich selbst: Sie erahnt, daß zwischen den Menschen in ihrem Umfeld etwas eine große Rolle spielt, was sie nicht kennt, nicht in den Griff kriegt. Zweimal kam sie dieser dunklen Macht nahe: Mrs. Brooks Mäuse haben Junge bekommen. „,Sieh mal – sind sie nicht eklig?‘ Sie waren tatsächlich eklig, wie sie sich in ihrem Nest wanden und krümmten. ,Du willst doch immer wissen, wie sie es machen‘, fuhr Mrs. Brook fort. ,Also gut, ich werd's dir sagen. Es ist dieser gräßliche Moses; er steckt sein Ding, du mußt es gesehen haben – Hubert hat auch eins–, in das Loch, aus dem sie pinkelt, und sät seinen Samen in sie.‘“

Die zweite Gelegenheit, sexuelle Erfahrungen zu machen, ergibt sich, als Richard, tatsächlich der Freund ihres Bruders Hubert, ein heterosexuelles Alibi braucht. Er legt sich zu ihr ins Bett, lärmt, damit Mr. St. Charles ihn hört, sagt „Du hast wirklich riesengroße Brüste. Soll ich meinen Kopf darauf legen?“ und geht. „Ich habe einen Mann in meinem Bett gehabt. Vermutlich kann ich sagen, ich hatte einen Liebhaber“, resümiert Aroon und kümmert sich um ihre Mutter – mit den bekannten Folgen. Stefanie Holzer

Molly Keane: „Eine böse Geschichte“. Aus dem Englischen von Anette Grube und Anna Leube. List Verlag, München 1992, 276 Seiten, 39,80 Mark