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Tränen im Bier

Einer, der am nüchternen Neujahrstage 40 Jahre tot sein wird: Hank Williams, der Dünne, der Gute, der Driftende...

Swann Kitts war der erste, der Hank Williams für tot erklärte. Der Highway-Polizist hatte den blauen, viel zu schnellen Cadillac in der Nähe von Rutledge/Tennessee angehalten. „Hey, der Typ sieht tot aus!“ sagte er und deutete auf den hageren Körper, der sich schlaff über die Rückbank streckte. Fahrer Charles Carr beruhigte ihn: „Sind nur Beruhigungsmittel“, entgegnete er, zahlte 25 Dollar Strafe und fuhr weiter Richtung Canton/Ohio, wo Williams am Abend (nicht mehr) auftreten sollte.

Ganze 29 Jahre jung (und in den Hitparaden gerade mit dem Titel „I'll Never Get Out Of This World Alive“ hoch plaziert) war Hank Williams, als Carr an einer Tankstelle in Oak Hill/West Virginia schließlich seinen Tod feststellen mußte. „Herzversagen“ konstatierte der Autopsiebericht. Doch die zwei Morphiumspritzen, die er in seinem letzten Hotel in Knoxville gegen sein chronisches Rückenleiden bekommen hatte, spielten wohl ebenso rein wie seine tägliche Pillendosis und die letzte Wodka-Flasche, die – genau wie sein Hut – schnell von einigen „Souvenir-Sammlern“ eingesackt wurde.

Ein kurzes, rastloses Leben, ein legendenumflorter Tod – Hank Williams teilte nicht nur die wesentlichen Bestandteile des späteren Rock'n'Roll-Klischees mit seinem Blues-Pendant Robert Johnson. Tatsächlich sind die Kategorien „Weiß“ (=Country) und „Schwarz“ (=Blues/Soul) der Musik erst später von einer latent rassistischen Plattenindustrie aufoktroyiert worden. Gerade im ländlichen, religiös geprägten US-Süden bot eine fest im Sozialgefüge verankerte Musik oft die einzige Nische, in der sich Schwarz und Weiß treffen und austauschen konnten – nicht im Überschwang der Gefühle, eher nüchtern, pragmatisch, vom Alltag und von der Neugier, nicht von falschen Erwartungen diktiert. Und vermutlich gerade deshalb mit so fruchtbaren Ergebnissen. Im Memphis der sechziger Jahre lieferten nicht zuletzt weiße Musiker die Grundlage für den als typisch „schwarz“ apostrophierten Soul-Sound etwa eines Otis Redding; im Haus von Hank Williams wiederum ging ein schwarzer Straßenmusiker namens Teetot ein und aus. Teetot brachte Hank (der eigentlich Hiram hieß) als Kind die ersten Gitarrengriffe bei, wenn der zwischen Schuhputzen und Erdnußverkauf zum Verschnaufen kam. Denn schon früh, mit sieben Jahren, mußte der Sohn eines Gas- Geschädigten aus dem Ersten Weltkrieg zum Lebensunterhalt seiner nicht eben wohlhabenden Familie beitragen. Die erste Band kam mit 14. Später: Mißglückte Versuche als Rodeo-Reiter in Texas, dann nur noch Honky-Tonk- Tingelei.

Der „Lovesick Blues“, interessanterweise kein Stück aus eigener Feder, brachte dem frühen Singer/ Songwriter Hank Williams 1949 nicht nur den großen Durchbruch, er „befreite“ die Country-Musik auch aus den Hinterwäldern ihrer Heimat. Schon bald würden sich Schnulzenkönige von der New Yorker Tin Pan Alley (wie etwa Tony Bennett) an Williams-Klassikern wie „Cold, Cold Heart“ vergreifen. Auch die „Grand Ole Opry“, die Country-Institution in Nashville, die Williams noch drei Jahre zuvor wegen vermeintlicher Unzuverlässigkeit und Neigung zum Alkohol kühl hatte abblitzen lassen, konnte den neuen Star nun nicht mehr ignorieren: Ein begeistertes Publikum klatschte den charismatischen Mann im berühmten, mit Noten bestickten Anzug bei seinem ersten Auftritt für gleich sechs Zugaben auf die Bühne zurück – Hausrekord im „Ryman“-Auditorium. Doch als es mit Williams im Zuge seiner Scheidung wieder bergab ging („Hanks Mutter war immer sein erstes Mädchen, und das hat er nie vergessen“, heißt es in einem durch seine Frau Audrey überlieferten Schriftstück) und Auftritte platzen, läßt die Opry-Führung ihn wie eine heiße Kartoffel wieder fallen. Später, am Grab in Montgomery/Alabama, plagte wohl so manchen Trauergast aus Nashville ein schlechtes Gewissen.

Auch der klassische Soul-Konflikt zwischen Saturday Night und Sunday Morning, dieser Seelendeal mit dem Teufel, der Todessehnsucht in Gewißheit umschlagen läßt, verbindet Robert Johnson und Hank Williams. Williams heulte den Mond an, feierte die Sünde einer Samstagnacht, beklagte Einsamkeit und Eifersucht. Um dann postwendend unter seinem Pseudonym „Luke The Drifter“ Gospel-Songs voller Hoffnung, staunenswertem Humor und Erlösungswillen anzustimmen. Seine mehr gesprochenen als gesungenen Monologe entwickelten in der Zweitidentität zuweilen fast philosophische Qualitäten – man höre sich bloß einmal „The Funeral“ an.

Sieht man von einigen Wichtigtuern ab, die kaum je einen Ton von ihm gehört haben, aber seinen Namen in die Runde werfen, weil das vorübergehend vielleicht einmal hip war, ist Williams' tiefer Einfluß auf (fast) alles, was musikalisch nach ihm kam, kaum zu unterschätzen. Der texanische Songwriter Steve Earle formulierte es – stellvertretend für viele andere – einmal so: „Jeder, der sich für Songs interessiert, wird irgendwann bei Hank Williams landen. Kategorien werden irrelevant, denn seine Musik transzendiert Country-Musik.“

Nicht nur das. Wer heute „You're Gonna Change (Or I'm Gonna Leave)“, „My Son Calls Another Man Daddy“ oder „Why Don't You Love Me“ hört, der weiß: Seelenschmerz ist zeitlos, mag er sich heute auch anders ausdrücken. Ein Phänomen wie Williams ist ohnehin nicht wiederholbar. Der Mann hatte keinen Presse-Agenten – und wohl auch keinen gewollt. Die Isolation, die seine Musik erst möglich machte, würde sich unterm Blitzlichttrauma des Hier und Jetzt auf der Stelle auflösen.

Die Frage, was Hank Williams zum Fortgang der Country-Musik sagen würde, hat wohl niemand treffender gestellt als Waylon Jennings auf seiner „Audiobiographie“ „A Man Called Hoss“ unter dem Kapitel Nashville: „If Ole Hank Could Only See Us Now“ titelte der seelenverwandte Outlaw- Veteran. Tja, was wäre wenn... H.W. heute in ein hypermodernes 32-Spur-Digital-Studio kommen würde? Ich vermute, er würde dem Produzenten „Guten Tag“ sagen, eine dicke Träne in sein Bier tropfen lassen und sich dann wieder in einem Comic verkriechen – zu Lebzeiten neben aktuellen Charts die einzige Lektüre des verschlossenen Loners. Jörg Feyer

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