Derjenige, welcher

Elektronisches Stundenbuch: Videoinstallationen von Bill Viola in der Kunsthalle Düsseldorf  ■ Rudolf Frieling

7 Tage hat die Woche und 7 Installationen die Ausstellung. 7 Monitore liegen in 7 Tonnen, 7 Projektoren werfen Bilder auf 7 Glasschirme. „Unseen Images – Ungesehene Bilder – Images Jamais Vues“, so der Titel der Ausstellung mit neuen Videoinstallationen von Bill Viola, die nun in der Düsseldorfer Kunsthalle noch bis zum 28.Februar zu sehen ist. Sehen? Wie kann man ungesehene Bilder sehen?

Metaphysik des Sehens

Bill Viola, Mystiker der elektronischen Kunst, sieht sich in einer langen Tradition schöpferischer und kritischer Visionäre. Er glaubt an die Kraft des sakralen Raumes, die Macht ikonischer Bilder und bekennt im Katalog: „Das nicht Sichtbare zu sehen, ist jene Fähigkeit, die im ausgehenden 20. Jahrhundert zu entwickeln bleibt.“ Wer die letzten Arbeiten von Viola kennt, etwa „City of Man“ (Berlin 1991) oder „The Arc of Ascent“ (Documenta 1992), wird sein Déjà-vu-Erlebnis haben. Visionen von im Dunkel der Vernunft schlafenden Bildern, die weniger mit den Augen verstanden als mit ihnen gefühlt werden müssen. Metaphysik – hinter den Dingen. Wieder begegnet uns die Form des Triptychons und der Bildtafel, wieder schafft Viola mächtige Installationen, die Bild, Klang und Raum vereinen. Doch allen kritischen Zeitgenossen sei gesagt, keine Angst vor Mystik, denn die griechische Wurzel Myéin bedeutet einfach: die Augen schließen.

Zeiterfahrung

„To Pray Without Ceasing (Beten ohne Unterlaß)“ empfängt den Besucher am Eingang. Per Computer ist ein Zyklus von Bildern über 24 Stunden programmiert: Zu bestimmten Uhrzeiten werden immer dieselben Bilder auf das Fenster des Museumseingangs projiziert. Am Tag unsichtbar und nur hörbar (Walt Whitmans „Song of Myself“), gewinnen sie mit zunehmender Dämmerung langsam Kontur, um schließlich Düsseldorfs Nachtschwärmern ein elektronisches „Stundenbuch“, eine Art Kosmologie von Violas bisherigem Schaffen zu zeigen. Es ist eine Installation, die virtuell ohne Ende ist. Unendlich viel Zeit und ein langer Atem des Betrachters wären nötig, um den thematischen Reigen vom anfänglichen Licht und Feuer bis zum abschließenden Dunkel und Wasser zu verfolgen.

Die Arbeit stimmt, auf zunächst unscheinbare Weise, auf Violas Themen ein, die „What Is Not and That Which Is“ im für ihn ungewohnt kleinen und übersichtlichen Postkartenformat (7 winzige Projektoren und Glasschirme) parallel präsentiert: Zeit, Meditation, Klang, Licht/Dunkel, Wasser, Geburt und Tod bilden ein Panorama, in dessen Zentrum der Künstler selbst sitzt.

Anfang und Ende

Geburt und Tod – ein lebensgeschichtlicher Kreis, der Violas persönliches Leben der letzten Jahre entscheidend geprägt hat – scheinen sich schlangengleich in den Schwanz zu beißen, wenn das Gesicht eines Neugeborenen dem eines alten Menschen verblüffend gleicht. Der Form nach auf die christliche Dreifaltigkeit anspielend, der Größe nach wie für einen Kirchenraum geschaffen, begegnet dem Besucher in der mächtigsten Arbeit der Ausstellung im „Nantes-Triptychon“ die Vorstellung von der Dreiteilung allen Lebens. Zwischen die dokumentarischen Aufnahmen der Geburt eines Kindes und des Todes einer alten Frau (nämlich Violas Mutter) setzt er als Schwarzweißbild die traumähnliche Vision des Menschen unter Wasser, in extremer Zeitlupe und rückwärts projiziert (ähnlich der Documenta-Arbeit). Sind dies nun die Tyrannei und der Schock der Intimität der überdimensionalen Vergrößerung von etwas doch eigentlich Privatem, oder verweist Viola auch auf einen gesellschaftlichen Prozeß, der die universalen Fragen nach Leben und Tod ausgegrenzt hat? Die künstlerische Umsetzung – die Langsamkeit und Traumzeit, die Emotionen weckenden Flügelbilder, die Größe des Triptychons – ist eindringlich, aber auch ambivalent. Violas Thematik verfällt hier geradezu der sakralen Form und schränkt den Interpretationsspielraum ein. Das große Mittelbild des Lebens erscheint gedrängt zwischen Geburt und Tod. Daß jedoch genau die Projektion in ihrem großen Maßstab die Spannung und Stärke von Violas Installationen ausmacht, belegt die erste der skulpturalen Arbeiten der Ausstellung: „Heaven & Earth“, die wie eine bloße Studie zum Triptychon wirkt. Eine Holzsäule ist in der Mitte unterbrochen von zwei „nackten“, von ihrem Gehäuse befreiten Fernsehröhren. In ihrer Opposition, Bildschirm gegen Bildschirm gerichtet, bringen sie das Gesicht der Sterbenden und des neugeborenen Kindes zur spiegelbildlichen Deckung. Doch der Besucher bleibt seltsam unbeteiligt. Viola hat die Bilder wieder in die TV-Röhre verbannt.

Inszenierung des Innen und Außen

Türschwelle und Schwellenangst, immer bezeichnet die Schwelle den Ort des Übergangs und der Veränderung, der Verheißung, aber auch des Bangens. Wer erinnert sich nicht an die kindliche Angst vor dem Moment des Einschlafens? Am nächsten Morgen die Enttäuschung, wieder nur schemenhafte Eindrücke einer vergangenen Traumzeit und inneren Welt. „The Threshold“ übersetzt dieses Gefühl in eine räumliche Dimension. Eine große und grelle Leuchtlaufschrift flankiert mit direkt übermittelten dpa-Meldungen einen schmalen Eingang. Gezwungen, den Strom des Sprachbandes zu durchqueren, betritt man einen dunklen Raum mit drei an die Wand geworfenen unscharfen Schwarzweißbildern von Schlafenden. Die überdimensionalen Köpfe, ein wenig an alte Fotografien erinnernd, verströmen Ruhe. Ihr Atem ist der einzige Klang. Die Intimität der Situation regt an, Träume zu imaginieren, Lebensdaten aus den Gesichtern abzulesen. Das Bild, das beim Betrachter im Kopf entsteht, schließt den Raum. Ein Kreis schließt sich: Kunst-Betrachtung wird hier zum Betrachten eigener imaginärer, oft nur vage gefühlter Bilder. Innen und Außen berühren sich, doch in der Welt der Sprache, der Nachrichten, der Lichter und Bewegung draußen vor der Tür geht alles wieder entzwei. Die traumhaften Eindrücke schlummern jetzt wieder im Hinterkopf. Was habe ich gesehen?

Selbst-Bewußtsein

Das Verhältnis von Innen und Außen und damit die Frage nach der eigenen Identität durchzieht Violas gesamtes Werk. In der komplexesten Installation der Ausstellung, „Slowly Turning Narrative“, setzt er in das Zentrum eines Raumes eine große rotierende Leinwand, deren Rückseite verspiegelt ist. Von zwei Seiten projiziert er ein Bild auf diese kreisenden Flächen: ein Selbstporträt in Schwarzweiß und, diametral entgegengesetzt in Farbe, grelle und unpräzise Bilder von Bränden und Feuerwerk. Aber wenn alles rotiert und keinen Moment stillsteht, bildet nur ein einziger flüchtiger Moment am Ende der Drehung das Bild in seiner ganzen unverzerrten Form ab, bevor es wieder in Brechungen und Spiegelungen über die Wände läuft. Die Wahrnehmung wird zu einem bildhaften zeitlichen Prozeß. Halt verspricht hier einzig eine Stimme, die in monotoner Litanei den „Einen“ beschwört, der tätig ist: „The one who produces, the one who concentrates, the one who...“ Das Kreisen der Bilder trifft somit auf die Linearität der Sprache, die wiederum in ihrer repetitiven Struktur ebenfalls einen Kreis formt. Stimme und Bild des Künstlers (und seiner Wahrnehmung der „Außenwelt“) erfüllen den Raum. Aber was sieht eigentlich Viola, wenn er nur sich in seiner eigenen Arbeit sieht? Erlöst wird er aus seiner solipsistischen Selbst-Reflexion erst, wenn ein fremder Betrachter in den Spiegel eintritt. Das ungesehene Bild siedelt hier zwischen dem Künstler und dem Betrachter.

Das Drehmoment der Kunst Violas arbeitet dem populären Bild der Videoästhetik entgegen: keine elektronische Trickschau, keine Beschleunigung der Bilder, auch kein Witz wie bei seinem Antipoden Nam June Paik, sondern die Inszenierung geistiger Wahrnehmungsräume, die Verlangsamung der Zeit und die Beteiligung des Betrachters an den „deep thoughts“ des Kosmos. Seine Stärke liegt in der Kraft der Arbeit, die sich im Raum entfaltet und durch die intellektuellen Filter hindurch auf das Unbewußte, den Geist und den Körper zielt. Violas Bilder werden weniger gesehen als gefühlt (und sind in diesem Sinne populär, nämlich offen für ein breites Publikum). Wenn aber dem einzelnen die Bilder überlassen sind, gedacht und gefühlt zu werden, sind diese Bilder für die anderen gewiß ungesehen.

Schlaf der Vernunft

Déjà vu: „The Sleepers“ zeigt in 7 Tonnen kleine Monitore unter Wasser, auf denen 7 verschiedene Personen im Schlaf zu sehen sind. Keine „ungesehenen Bilder“, keine Aussage, die nicht bereits an anderer Stelle pointierter formuliert wäre. Die einzige Arbeit dieser Ausstellung, die vielleicht Violas Schlaf der künstlerischen Vernunft zuzuschreiben ist. Nutzt Viola, darin Paik nicht unähnlich, den Ruhm auch für die Sicherung einer Marktposition, indem er verkäuflichere Skulpturen quasi als Nebenprodukte seiner großen Installationen schafft?

Viola ist nun über 40 und einer der gefragtesten (Video-)Künstler. Düsseldorf, Stockholm, Madrid, Lausanne und London sind die Stationen dieser ersten größeren Einzelausstellung Violas in Europa. 7 neue Installationen und zusätzlich eine Retrospektive seiner Videobänder – das ist nach der Megashow von Nam June Paik im letzten Jahr erst das zweite Mal, daß einem Pionier der Videokunst ein derartiger Erfolg beschieden ist, Sat.1 als Sponsor sei Dank.

„Wenn ich daran denke, daß ich früher pro Jahr vielleicht zwei große Installationen realisieren konnte, am Ende meines Lebens dann vielleicht 40 große Arbeiten produziert habe, dann werde ich nie eine Retrospektive haben können. Kein Museum könnte alle ausstellen.“ Viola, frustriert von dem ungeheuren Aufwand an Finanzen und Equipment (alle Arbeiten laufen mit Bildplattenspielern, die per Computer synchronisiert und in einem transportablen „Überseekoffer“ untergebracht sind), denkt nun auch in kleinen, marktgerechteren Dimensionen. Er arbeitet bereits an seinem „Werk“ und ist darin, trotz aller mystischen Motive, doch wieder erstaunlich handfest. Als Künstler muß man die Augen eben auch offen halten.