: „Zu meiner Mutter will ich nicht mehr“
Eltern, die mit ihren Problemen nicht fertigwerden, und Gewalt in der Familie treiben Kinder und Jugendliche auf die Straße/ Über ihr Leben ohne feste Bleibe, ohne Schule und Ausbildung berichtet ■ Aus Berlin Corinna Raupach
„Meine leibliche Mutter ist mir so egal, wenn ich achtzehn bin, besuch' ich vielleicht mal ihr Grab“, sagt der 15jährige Matthias entschieden und schüttelt die braunen Locken. „Die nimmt Tabletten, trinkt sehr viel Alkohol und raucht mehr als wir alle hier zusammen.“ Seinen leiblichen Vater hat er seit der Scheidung vor elf Jahren nur einmal gesehen.
„Ich bin mit sieben ins Heim gekommen. Mit der allein, das war zu stressig.“ Dann nahmen ihn Pflegeeltern auf. Das ging fast sieben Jahre gut. Doch mittlerweile ist er siebenmal rausgeflogen. „Die haben gesagt, wir können bald nicht mehr.“ Unter der Stupsnase verzieht sich sein empfindlicher Mund in einer Mischung aus Trotz und Reue. „Ich hätte die Chance nutzen sollen, mich zu benehmen, das war Scheiße von mir.“ Aus den Heimen, in die man ihn einwies, riß er aus. Seit einem Monat wohnt er im Ostberliner „Sleep-In“. Sein Fuß hämmert nervös gegen das Stuhlbein. „Ich will auf jeden Fall zurück zu meinen Eltern, nicht in ein neues Heim“, sagt er. „Ich will mich bestimmt benehmen, wenn wir jetzt eine Woche zusammen wegfahren, aber das weiß man vorher nie.“
„Hier kann jeder für ein paar Nächte bleiben, der nicht total breit oder gewalttätig ist“, sagt Mitarbeiter Eberhard Noske. Der rotgeklinkerte Altbau riecht nach volkseigenem Linoleum, Zigaretten und Putzmitteln. „Wir wollen hier noch einiges umbauen“, sagt Noske. Küche und Duschen seien schon renoviert, auch einen Tischtennisraum habe man eingerichtet. Vor der Wende wurden in dem sogenannten Übergangsheim Jugendliche während der Überführung von einem Heim oder Knast in einen anderen untergebracht. „Einige der alten Mitarbeiter sind heute noch hier. Das war nicht einfach, weil die anfangs meinten, man müsse die Jugendlichen eigentlich bestrafen.“
Wenn es mit seinen Eltern wieder nicht klappt, wird Matthias wahrscheinlich über kurz oder lang zu den Trebern gehören, jenen Kindern und Jugendlichen, die ohne feste Bleibe, ohne Schule und Ausbildung, oft auch ohne Ausweis ihr Leben auf der Straße verbringen. Sie schlafen in Nachtbussen oder auf Bahnhöfen, in Abstellkammern oder Kellern, auf Parkbänken oder Dachböden. Viele kriechen auch von Zeit zu Zeit bei Freunden oder Freiern unter, andere wohnen in besetzten Häusern. Die Dunkelziffer für Berlin wird auf bis zu 5.000 geschätzt, genau weiß das niemand. „Wie soll man das auch erheben?“ fragt die zuständige Referatsleiterin beim Senat. „Die Kinder werden oft von ihren Eltern nicht mehr vermißt gemeldet, was für eine entsetzliche Gleichgültigkeit spricht.“
Zerrüttete Familienverhältnisse und Heimerfahrungen spielen fast immer eine Rolle, wenn es Kinder auf die Straße treibt. „Ich war zum ersten Mal mit neun Jahren im Heim“, sagt Dirk. „Mit 16 bin ich da abgehauen, es fehlte einfach eine Bezugsperson, so das Familiäre.“ Er hing bald an der Nadel und landete wegen Scheckbetrügereien für zwei Jahre in der Jugendstrafanstalt Plötzensee. „In den Jahren hab' ich gelernt, auszuteilen und mich durchzusetzen. Und nach dem Knast sitzte wieder auf der Straße, und alles geht von vorne los.“ Aus einem ABM-Projekt ist er nach drei Monaten rausgeflogen. Jetzt hat er wieder 120 Bewerbungen geschrieben – „nischt, nischt, nischt.“
Dirk und seine Freundin Hatice wollen heiraten, „so schnell wie möglich,“ sagt Dirk, der sein Knie über ihres gelegt hat und meistens für beide redet. Sie hat dafür die Marmeladenbrote geschmiert. Saschas Freundin ist schwanger. „Und ich kann nicht für meine Kleine und mein Kind sorgen, ich kann nicht mal 'ne Wohnung anbieten!“ Er ist gerade wieder bei einem Arbeits- und Ausbildungsprojekt abgelehnt worden. „Obwohl die meisten ihre Beziehungen öfter wechseln als ihre Unterhosen, klammern sie sich sehr stark an ihre Partner“, sagt Monika Jauch, die als Sozialarbeiterin in der Kreuzberger Oranienetage arbeitet. „Mit unseren emanzipierten Theorien kommen wir nicht weit.“ Statt dessen muß sie sich morgens ansehen, wie die jungen Frauen ihren Lovern schon im Bett die erste Zigarette drehen.
Nicoles Freund wohnt im Heim. Ihre dunklen Augen glänzen, wenn sie erzählt, wie er schon in der Tür auf sie wartet, wie sie sich verlobt haben, wie er ihr den rosa Pulli geschenkt hat. Seinetwegen hat ihre Mutter sie rausgeworfen. Sie wirft die Haare nach hinten, die sofort wieder in die Stirn fallen. „Da will ich nicht mehr hin. Ich habe sie besucht, es stinkt furchtbar, alles liegt herum, der Mülleimer ist seit Wochen nicht geleert.“ Ihre an Muskelschwund erkrankte Mutter sitzt von morgens bis abends vor dem Fernseher. „Ich bin mit ihr zum Arzt gegangen, sie muß laufen, aber sie will nicht.“ Erst als sie ihrer Mutter eine geklebt habe, hätte diese solche Angst bekommen, daß sie zum Einkaufen gehorsam mitgegangen sei.
„Das Schlimme ist immer, daß ein Kind nicht Kind sein darf, sondern den Eltern gleichgestellt wird“, sagt Elke Rowald, Leiterin des Kindernotdienstes. Entweder benähmen sich die Eltern kindisch, so daß die Kinder etwa dafür sorgen müßten, daß die Mutter im Suff nicht am eigenen Übergebenen ersticke, oder sie muteten den Kindern die Rolle von Partnern zu, wie es am deutlichsten beim sexuellen Mißbrauch geschehe. Das fange damit an, den Willen von Kindern zu mißachten, die nicht ständig geknutscht werden wollen, setze sich fort in inzestuösen Verhältnissen bis hin „zu der Sau, die besoffen über alles herfällt, was sich bewegt. Das hat alles damit zu tun, daß diese Eltern selbst keine Würde haben und ihren Kindern nicht vermitteln können, was Menschenwürde ist. Wer aber seinen Kindern keine Würde läßt, kann sie gleich in den Gully schmeißen“, stellt Elke Rowald fest.
„Bei den Treberinnen, die herkommen, steht fast immer sexueller Mißbrauch im Hintergrund“, sagt Dauda Wiederstein, die im Mädchennotdienst arbeitet. Die 14jährige Kathrin war von ihrem Stiefvater schon als kleines Mädchen immer wieder vergewaltigt worden. Er band sie dabei fest, schlug sie mit Gürteln und brachte ihr auch mit einem Messer Verletzungen bei. Mit 14 steckte ihre Mutter sie in eine psychiatrische Anstalt, wo sie mit Medikamenten ruhiggestellt wurde. Teilweise band man sie wieder fest, was sie erneut traumatisierte. Sie lief immer wieder weg, lebte schließlich ein Dreivierteljahr auf der Straße. „Die Mädchen haben so einen Haß gegen den eigenen Körper, denen ist es ganz egal, wer mit ihnen schläft“, sagt Wiederstein.
Haltlos hängt der junge Mann an einer der gelbgekachelten Säulen in der Bahnhofshalle und stiert auf die Lache, die sich mit einiger Geschwindigkeit vor ihm auf dem Boden ausbreitet. Zwei Polizeibeamte warten entnervt, bis er seine zerschlissene Cordhose zugenestelt hat. Dann rütteln sie ihn an der Schulter: „Wir haben dich heute doch schon fünfmal rausgesetzt, kapier das doch endlich und verschwinde!“ Wortlos, mit starrem Blick wankt der Junge Richtung Tür. Sein Kumpel Ingo beobachtet das Geschehen ungerührt, nimmt einen Schluck aus der Schultheiss-Dose und verstaut die Flasche Klaren in der Innenseite seiner Jeansjacke. „Die kommen alle zehn Minuten, sobald man irgendwo stehenbleibt. Raus–rein, so geht das den ganzen Tag“, sagt er. Der 23jährige kam vor zweieinhalb Jahren aus Leipzig an den Bahnhof Zoo.
„Meine Mutter hat in den Westen rübergemacht, keine Ahnung, wohin. Wir haben uns sowieso nicht verstanden, seit sie wieder geheiratet hat.“ Von seinem Lehrgeld konnte er die Wohnung nicht mehr bezahlen. „Na, und hier: keine Wohnung, keine Arbeit, keine Arbeit, keine Wohnung, was willste machen.“ Aber er komme gut durch. „Zu essen gibt es in den Wärmestuben, kein Problem.“
Zwischen zwei- und dreihundert Kinder und Jugendliche trieben sich am Bahnhof Zoo herum, schätzt Wolfgang Riegel, der Kontaktbereichsbeamte vom Abschnitt 31. „Der überwiegende Teil hat Heimerfahrungen.“ Bei denen aus der ehemaligen DDR komme der Zusammenbruch der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse dazu. „Die Eltern sind auf einmal arbeitslos und zu Hause, haben jede Orientierung verloren, die Angebote für Jugendliche sind zusammengebrochen. Die sind überfordert, auf einmal erziehen zu müssen.“ Die Kinder sehen hier die Möglichkeit, sich frei zu bewegen. „Aus Frust und weil sie kein Geld haben, landen sie dann auf dem Strich.“ Aufgrund der ständigen Beschwerden von Reisenden sei die Polizei angewiesen, diese Leute vom Bahnhof zu verweisen. „An sich ist das ein soziales Problem, das mit polizeilichen Mitteln nicht zu lösen ist“, sagt Riegel selbst. „Wir versuchen, die Minderjährigen nicht der Prostitution anheimfallen zu lassen. Die sind jedoch aus den Heimen schneller wieder da als der Polizeiwagen, der sie hingefahren hat.“
Elegant schwingt sich der junge Mann in Schwarz über die Absperrung im Drogeriemarkt. „Schon wieder kein Remy Martin da!“ beschwert er sich lautstark in Richtung Kasse. An der nächsten Ecke sortiert er die zahlreichen Gabriela-Sabatini-Schächtelchen, mit denen er seinen Rollkragenpulli ausgestopft hat. „Die gibt es morgen beim Türken für einen guten Preis“, lacht er. „Gabriela tut das nicht weh. Wenn die mich kennen würde, würde die bestimmt sagen, klar, Mirko, mach weiter so!“ Mit 13 hatte Mirko seinen ersten Alkoholentzug und landete für kurze Zeit im Heim. Wieder bei seinen Eltern, klaute er aus deren Apotheke Morphium, Speed, „eigentlich alles, und alles vom Feinsten.“ Das kam erst raus, als er mit einem gestohlenen Wagen einen Unfall baute. Seine Eltern besorgten ihm daraufhin einen Therapieplatz in Frankfurt am Main. „Die waren eigentlich nett“, meint er, „da bin ich erst richtig zum Junkie geworden.“ Er brach die Therapie ab und versuchte es auf Hawaii mit einem Neuanfang. „Dort bin ich total mit Crack abgestürzt.“ Jetzt ist er 25, hat weder Arbeit noch Wohnung und versucht es seit drei Tagen wieder mit einem Entzug.
Er wohnt jetzt in der Oranienetage, wo 18- bis 25jährige Treber übernachten. Das Zimmer, das er sich in der Souterrainwohnung mit vier weiteren Männern teilt, haben sie selbst mit Rotlichtlampe und barbusigen Frauen auf Motorrädern an den Wänden ausgestattet. Im Frauenzimmer liegen weniger schmutzige Socken auf dem Boden, die schmalen Schränke sind geschlossen, und auf der Kommode steht sogar ein Frisierspiegel. „Wir lassen die Leute erst mal ausruhen“, beschreibt Monika Jauch die Arbeit mit den jungen Erwachsenen. „Nach zwei Wochen werden wir etwas unangenehm.“ Die meisten haben keinen Ausweis, Schulden, Drogenprobleme, keine Ausbildung, müssen ihren Rausschmiß verarbeiten, haben laufende Strafverfahren. „Diesen Berg versuchen wir in viele kleine Berge aufzuteilen und zu bearbeiten. Dann fragen wir nach Interessen, Ausbildung, Perspektiven.“ Immer wieder mal gelingt es, Leute in Wohn- oder Ausbildungsprojekte weiterzuvermitteln.
Zu ihnen gehört Thorsten. Nachdem im schwäbischen Aldingen seine Freundin gestorben war, fing er an zu trinken. Vor seinem wachsenden Schuldenberg floh er nach Berlin. Er kam in Punk-WGs unter, wurde aber bald obdachlos. Auch am Zoo hat er eine Weile gelebt. „Das Anschaffen habe ich aufgegeben, das fand ich pervers.“ Im Januar dieses Jahres kam er in den Schöneberger Treberladen und konnte in das angeschlossene Wohnprojekt vermittelt werden. „Jetzt schreibe ich ein Buch über meine Erfahrungen.“
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