■ Ein Plädoyer gegen verzerrte Perspektiven
: Sarajevo ist nicht überall

Seit dem 20.August dieses Jahres scheint im Sprengstoffarsenal des osteuropäischen Nationalismus ein neues Pulverfaß bereitzustehen, auf daß es gezündet wird. Dieses Bild zumindest drängt sich auf, wenn man das Gros der hiesigen Nachrichten über den ungarischen Schriftsteller István Csurka und seine achtseitige „Studie“ liest, die an besagtem Tag in Budapest erschien.

Unter dem bescheidenen Titel „Einige Gedanken im Zusammenhang mit den zwei Jahren des Systemwechsels und dem neuen Programm des MDF“ verbindet Csurka in einer ultranationalistischen und antisemitischen Suada den alten ungarischen Nationalkomplex des „Wir- sind-von-Feinden- umgeben“ mit der Forderung nach dem „Ungarischen Weg“, dessen Wurzeln in der profaschistischen Horthy-Ära liegen. Auf diesem alten, neuen Weg soll sich das Land, wie Csurka empfiehlt, von seiner Steuerung durch (Krypto-)Kommunisten und Kosmopoliten, dem IWF, Washington und Tel Aviv befreien. Das manichäische Pamphlet gipfelt in der Feststellung, daß der Vertrag von Jalta 1995 auslaufe und eine „neue ungarische Generation“ sich dann „lebensraumschaffenden Möglichkeiten“ gegenübersehe. Der Autor verlangt damit indirekt eine Revision des Trianon-Vertrages von 1920, im Zuge dessen Ungarn zwei Drittel seines damaligen Territoriums verlor.

Nun ist Csurka nicht irgendein hysterischer Schreihals, sondern Vizevorsitzender eben der Partei, deren Erneuerung er fordert: des MDF, des Ungarischen Demokratischen Forums – die größte Partei der amtierenden Regierungskoalition. Mehr noch: Csurka führt den rechtsnationalen MDF-Flügel an, der zwar real nicht die Macht in der Partei, wohl aber die mächtigste Basis hat. Um einen greifbaren Eindruck von dieser Basis zu bekommen, sollte man sich allerdings vor Augen halten, daß das MDF in Umfragen mittlerweile nur noch auf sieben Prozent der Wählerstimmen kommt, nachdem es die Wahlen vor zweieinhalb Jahren mit über 42 Prozent gewonnen hatte.

Eine Reihe von ausländischen Beobachtern befürchtet inzwischen dennoch, daß die Basis der ungarischen Politik in Zukunft aggressiver Nationalismus sein und das Land, anders als seine führenden Politiker immer wieder verkünden, auf einer Revision der Trianon-Grenzen bestehen wird. Solche Befürchtungen scheinen von einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung im Lande untermauert zu werden – eine Folge der stagnierenden „Umgestaltung“, die unter anderem dazu geführt hat, daß Nationalisten in der Öffentlichkeit immer ungehemmter auftreten und die Regierung und Ministerpräsident József Antall immer wieder zögern, sich von Rechtsextremisten (als solcher darf auch Csurka gelten) eindeutig zu distanzieren.

All das reiht sich in die real existierenden Vorstellungen über Osteuropa bestens ein: Nationalbewegungen schießen wie Unkraut aus dem Boden, Völker, von deren Existenz kaum eine Handvoll Ethnologen etwas ahnte, rufen im Handumdrehen ihren eigenen Staat aus, und Dutzende Minderheiten mit unaussprechlichen Namen fordern Autonomie. Gewaltsame Konflikte in Regionen, deren Namen man bisher, wenn überhaupt, nur aus historischen Romanen kannte, sind vorprogrammiert, kurz: Sarajevo überall.

In gewisser Weise spiegeln solche impressionistischen Nachrichten allerdings wenig von den Umständen wider, unter denen zum Beispiel jemand wie Csurka sein Unwesen treiben kann. Die osteuropäischen Staaten sind nach dem Zusammenbruch des Kommunismus auf der Suche nach einer neuen nationalen Identität. Wenn auch weder wünschenswert noch ungefährlich, so erscheint es doch vollkommen natürlich, daß in Systemen, in denen die historische Entwicklung hin zu einer bürgerlichen Gesellschaft angehalten wurde und die länger als 40 Jahre nur die Arroganz der Macht und die Moral des Opportunismus kannten, jetzt auch auf nationalistische und totalitäre Traditionen der Geschichte zurückgegriffen wird. (Dafür stehen Namen wie Pilsudski in Polen, Tiso in der Slowakei, Bandera in der Ukraine, Horthy in Ungarn und Antonescu in Rumänien, um nur einige Beispiele zu nennen.)

Das gilt erst recht, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß es nicht nur Jalta nach dem Zweiten Weltkrieg und der zusammengebrochene Kommunismus nach 1989 waren, die Osteuropa in Unordnung stürzten, sondern nach dem Ersten Weltkrieg bereits die damaligen Westmächte. Per Federstrich verschoben sie die Grenzen riesiger Territorien, und Millionen Menschen fanden sich über Nacht in einem anderen Staat wieder.

Solche restaurativen Bestrebungen, so auffällig sie auch sein mögen, stehen jedoch nirgendwo in Osteuropa für eine Entwicklung, die auf einem politischen oder gesellschaftlichen Konsens beruht. Heute – und das mag manchen verwundern – findet sich nicht nur in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, sondern sogar in Rumänien und Bulgarien eine Klasse von größtenteils rational denkenden und handelnden Politikern an der Macht, die an einer europäischen Integration interessiert ist. Wenn einige von ihnen sich bisweilen scheinbar tolerant gegenüber Populismus und Nationalismus verhalten, so zeugt das oftmals nicht von ihrer Nähe zu solchen Erscheinungen, sondern von einer Art postkommunistischer Einheits-Manie: Sie möchten alles zusammenhalten, weil sie hinter einer sich differenzierenden Gesellschaft lediglich Zerfallsprozesse zu erkennen vermögen. In tendenzieller (und vielleicht unbewußter) Wiederholung des kommunistischen Herrschaftsmechanismus, nach außen hin ein monolithisches Bild zu wahren, suggeriert ihre zentristische Politik einen Schulterschluß mit rechts außen, der in Wirklichkeit nicht stattgefunden hat. In der Folge werden Extremisten wie Csurka im Ausland in verzerrter Perspektive dargestellt und die innenpolitischen Konflikte, die sie auslösen, schlicht über- oder falsch bewertet.

Das hat, mit einiger Zuspitzung, fatale Konsequenzen: Die Frage, ob die demokratische Umgestaltung schnelle Fortschritte macht oder neue nationalistische Konflikte heraufziehen, wird nicht von Leuten wie Csurka entschieden, sondern von dem Klischee der gespenstischen Nationalisten, das man andernorts von ihnen entwirft und das ihnen eine Macht zuschreibt, die sie gar nicht besitzen. Zwei Beispiele verdeutlichen das: Kaum hatte Csurka sein Pamphlet veröffentlicht, als der amerikanische Kongreß auf Initiative des demokratischen Abgeordneten Tom Lantos eine Sondersitzung anberaumte, die in ehrenwerter, aber zweifellos verfehlender Absicht Csurka brandmarkte und die Regierung zu einer definitiven Stellungnahme aufforderte. Nicht nur die ungarische Regierung, sondern auch die liberale parlamentarische Opposition (die vergeblich darum gebeten hatte, die Sitzung nicht stattfinden zu lassen), empfand das als unverhältnismäßige Aufbauschung der Csurka-Affäre, die Ungarn in ein falsches Licht rückte und nur Wasser auf die Mühlen der Nationalisten goß.

Im Falle Rumäniens hat der amerikanische Kongreß diese Politik der Isolation noch weiter getrieben, als herrschten dort Verhältnisse wie in China, Südafrika, Ex- Jugoslawien oder dem Irak. Drei Tage nach der Wiederwahl Iliescus zum Staatspräsidenten beschloß der Kongreß, Rumänien die Meistbegünstigungsklausel zu verweigern – eine Entscheidung, die in ganz Rumänien einen Sturm der Entrüstung hervorrief.

Es ist im übrigen mehr als bedauerlich, daß ein Pamphlet wie das von Csurka und 10.000 seiner hysterisierten Anhänger in ausländischen Medien mehr Beachtung finden als 100.000 Menschen, die gegen Antisemitismus und für Demokratie demonstrieren, zumal, wenn dies die politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse im Land ungefähr widerspiegelt. Auf letzterer Demonstration, die am 27.September in Budapest stattfand, rief der bekannte Theaterregisseur und liberale MDF- Mitbegründer Imre Vitányi in Anspielung auf Csurka vor den DemonstrantInnen aus: „Wenn es für die Demokratie sein muß, bin ich Jude, wenn es sein muß, bin ich Zigeuner, und wenn es sein muß, bin ich vaterlandslos.“ Der hunderttausendfache Beifall, der daraufhin erscholl, war ein eindeutiges Signal, das in seiner Bedeutung jede noch so klare Distanzierung Antalls von seinem Csurka übersteigt. Keno Verseck, Budapest