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Gegen rechte Gewalt die Solidarität der Demokraten

■ Berliner Chronik des Jahres 1992: Nicht nur die brutale Gewalt von rechts, sondern auch der alltägliche Rassismus und Antisemitismus hatten schon vor den Rostocker Pogromen eine unheilvolle Konjunktur in der Stadt/ Manifestationen des besseren Deutschland

Anfang Januar 1992: Innensenator Dieter Heckelmann (CDU) will zwei junge Türkinnen abschieben, die – in der Türkei zwangsverheiratet und mißhandelt – nach Berlin geflüchtet waren.

7.1.: Zwölfjähriges Mädchen aus Lichtenrade wird zum zweiten Mal von Skinheads zusammengeschlagen.

11.1.: Etwa 40 Lichtenberger Skinheads aus dem „Judith-Auer- Club“ randalieren vor dem Jugendclub „BBC“.

16.1.: Wilmersdorfer wehren sich gegen die Rückbenennung ihrer Straßen, die unter den Nazis ihre jüdischen Namen verloren. Stärkstes Argument der Anwohner: die hohen Kosten für den Druck neuer Visitenkarten.

17.1.: Ein polnischer Tourist wird überfallen. Drei Skinheads, so sagt er aus, hätten ihn in ein Gebüsch gezerrt, eine Betäubungsspritze verpaßt und ein Stück Zunge abgeschnitten.

19.1.: Erst am 50. Jahrestag der „Endlösung der Judenfrage“ wird im Haus am Großen Wannsee eine Gedenkstätte zur Wannsee-Konferenz eröffnet.

20.1.: Vier Unbekannte verüben einen Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim in Pätz bei Berlin. Bewohner verhindern ein Ausbreiten des Feuers.

28.1.: Mit steigendem Alter nehmen in Berlin rechtsextreme, nationalistische und ausländerfeindliche Einstellungen immer mehr zu, ergibt eine Studie. Im Ostteil der Stadt ist das extrem rechte Einstellungspotential mit insgesamt 17 Prozent doppelt so hoch wie im Westteil, auch die rechtsextrem motivierten Überfälle sind dort häufiger und brutaler.

31.1.: Innensenator Heckelmann befindet, Berlin habe „die Grenze der Aufnahmefähigkeit“ von Ausländern erreicht.

9.2.: Unbekannte beschmieren in der Gedenkstätte der Sozialisten in Friedrichsfelde Grabplatten mit Hakenkreuzen und Davidsternen.

18.2.: Der taz berichtet über ein Formular der Ausländerbehörde: Flüchtlinge, die einen Reisepaß beantragen, müssen auch die Form ihrer Nase angeben.

18.2.: In Berlin leben Menschen aus 164 Staaten, gibt das Statistische Landesamt bekannt. Ingesamt 355.356 AusländerInnen – davon leben allerdings nur 31.000 im Ostteil – entsprechen einem Bevölkerungsanteil von 10,3 Prozent. Die größte Gruppe bilden die Türken mit rund 137.600 Personen.

23.2.: Ein bengalischer Journalist und Schriftsteller wird nachts in Kreuzberg von vier Skins zusammengeschlagen und ausgeraubt.

27.2.: Ein Jugendlicher in komplettem Kampfanzug und Stahlhelm bedroht einen Busfahrer mit einem Luftgewehr.

28.2.: Eine Gruppe von Skinheads versammelt sich am S-Bahnhof Hohenschönhausen, randaliert und pöbelt Fahrgäste an.

29.3.: Der Staatsschutz ermittelt, nachdem türkische Einzelpersonen, Vereine und Geschäfte seit Wochen mit rechtsradikalen Flugblättern traktiert werden.

2.4.: Der kolumbianische TU- Dozent Milton Amador wird zwangsabgeschoben. Der Innensenator und die Gerichte hatten befunden, sein weiterer Aufenthalt hier sei „nicht im öffentlichen Interesse“. Vergeblich protestieren die TU und seine Studenten.

7.4.: Der CDU-Bundestagsabgeordnete Lummer will eine „Haselnußkoalition“ mit den Reps für die Zukunft nicht ausschließen.

7.4.: Die letzten der 120 Flüchtlinge, die aus Hoyerswerda nach Berlin in die Technische Universität geflohen waren, geben auf. Nur 16 von ihnen dürfen in Berlin bleiben, die restlichen werden auf das Land Brandenburg verteilt.

14.4.: Im Bezirk Friedrichshain werden eine Vietnamesin und Männer aus Togo und Sudan von einer Gruppe von Männern überfallen und verletzt.

15.4.: Acht Männer werden mit Geldstrafen zwischen 675 und 3.600 Mark belegt, weil sie den Arm zum Hitlergruß erhoben und Naziparolen geschrien hatten.

19.4.: Ein 24jähriger wirft einen Beutel Fäkalien gegen das jüdische Mahnmal an der Putlitzbrücke.

22.4.: Überfall auf den türkischen Friedhof in Kreuzberg.

24.4.: Vor den Augen zahlreicher Passanten wird ein Vietnamese vor einem Einkaufszentrum in Marzahn erstochen. Der 21jährige Täter, der sich als rechts bezeichnet, stellt sich selbst.

26.4.: Mindestens 55 Grabmale auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee werden umgestoßen, zerstört oder beschädigt.

7.5.: Innensenator Heckelmann ist gegen ein Einwanderungsgesetz: „Wer nach Deutschland kommt, sollten wir nach unseren Bedürfnissen bestimmen.“

10.5.: 7.000 Menschen demonstrieren friedlich gegen eine zuvor auch von einem Gericht verbotene Kundgebung der rechtsextremen „Nationalen“ in Karlshorst.

18.5.: Skinheads verletzen zwei Asylsuchende aus Rumänien durch Messerstiche.

19.5.: Die Polizei verbietet eine vorgebliche „Mahnwache“ der „Nationalen“ vor dem Jüdischen Gemeindezentrum in der Fasanenstraße, mit dem die rechtsextreme Gruppierung auf „den Einfluß von Heinz Galinski auf den Senat“ aufmerksam machen will.

16.5.: Der SPD-Abgeordnete Frank Poschepny wird von Rechtsradikalen bewußtlos geschlagen, nachdem er gegen deren „Hitlergruß“ protestiert hatte.

21.5.: Die Punahou-Privatschule in Honolulu kündigt ihre langjährige Partnerschaft mit der Marienfelder Gustav-Heinemann-Gesamtschule auf. Angesichts der zahlreichen Angriffe auf Ausländer könnten sie sich bei ihren Besuchen in Berlin nicht mehr sicher fühlen.

21.5.: Hellersdorf: ein Schwarzer wird von zwei Skinheads krankenhausreif geschlagen.

22.5.: 150 Menschen halten eine Mahnwache vor der Jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße ab. Anlaß: Die rechtsextremen „Nationalen“ hatten ihrerseits vor der Gemeinde demonstrieren wollen.

22.5.: Rep-Chef Franz Schönhuber spricht im Kongreßzentrum am Alex. In der Halle stinkt es nach Buttersäure. Vor den starken Polizeiabsperrungen stehen 300 GegendemonstrantInnen.

23.5.: Ein 18jähriger Türke, offenbar Opfer eines Überfalls, wird nachts am U-Bahnhof Ruhleben bewußtlos und blutüberströmt aufgefunden.

24.5.: Kommunalwahlen: Jeder zehnte Berliner darf nicht wählen, weil er oder sie keinen deutschen Paß hat. Wahlsieger ist die Partei der Nichtwähler, die Reps erhalten mit 8,3 Prozent weniger Stimmen als befürchtet.

28.5.: Der Gedenkstein für Walter Rathenau in der Königsallee in Wilmersdorf wird mit einem Schweinskopf geschändet.

9.6.: Vier Skins im Alter von 19 bis 37 Jahren werden zu Bewährungsstrafen zwischen einem und zwei Jahren verurteilt, weil sie zwei Algerier in der S-Bahn überfallen und mißhandelt haben.

17.6.: In Wedding wird ein Sprengstoffanschlag auf ein Heim für Asylsuchende verübt, ohne großen Schaden anzurichten.

25.6.: Rund 500 Menschen fordern auf dem Alex ein Bleiberecht für ehemalige DDR-Vertragsarbeiter. Eine Sprecherin der Vietnamesen begrüßt, daß der Senat bis zu einer bundesweiten Lösung nicht abschieben will.

7.7.: Rund 20 Männer zerstören Döner-Imbiß in Lichtenberg.

9.7.: Obwohl er einen Asylantrag gestellt hatte, wird ein 42jähriger Vietnamese zwangsabgeschoben. Seine Frau bleibt zurück.

10.7.: Japanische Geschäftsleute klagen über lange Schlangen und unwürdige Zustände in der Ausländerbehörde. Der Senat überlegt, ob er einen Extra-Schalter für reiche Ausländer eröffnen soll.

10.7.: 13 Polizisten in Hohenschönhausen werden festgenommen. Sie sollen ein Jahr lang Zigaretten und Bargeld von vietnamesischen Händlern in die eigene Tasche gesteckt haben.

21.7.: Die taz, die Grünen und die Initiative zur Unterstützung der Friedensbewegung in Ex-Jugoslawien rufen zur „Aktion Fluchtweg“ auf: es werden Adressen von Berlinern gesammelt, die bosnische Kriegsflüchtlinge privat aufnehmen wollen. Grund: die lächerliche Aufnahmequote von gerade mal 5.000 Flüchtlingen im ganzen Bundesgebiet und 130 in Berlin. Die Aktion löst eine Welle der Hilfsbereitschaft aus, die auch den Senat beeindruckt.

30.7.: „Asyl in der Kirche“ und „SOS Rassismus“ holen selbständig 27 bosnische Flüchtlinge nach Berlin und bringen sie in Kirchengemeinden unter.

5.8.: „Scheinasylanten“ blockieren nach Ansicht von Senator Heckelmann die Aufnahme von bosnischen Kriegsflüchtlingen.

23.8.: Pogrom in Rostock-Lichtenhagen: Rund 100 Autonome aus Berlin fahren noch in der Nacht nach Rostock und halten eine kleine Kundgebung ab. Etwa 30 von ihnen werden festgenommen und zusammen mit Rechtsradikalen in eine Turnhalle gesperrt.

26.8.: Mehrere tausend Berliner demonstrieren gegen die Pogrome von Rostock. Mitarbeiter der Amerika-Gedenk-Bibliothek organisieren spontan eine Ausstellung mit Fotos aus Rostock.

27.8.: Rund hundert Autonome verhindern den Auftritt des Hamburger Neonazis Christian Worch in der Sat.1-Livesendung „Einspruch“ im „Kesselhaus“ im Prenzlauer Berg.

1.9.: Bombenanschlag auf das Jüdische Mahnmal an der Putlitzbrücke in Tiergarten.

12.9.: Bundesweit wurden im ersten Halbjahr 1.443 Anschläge „mit fremdenfeindlicher Motivation“ verübt, davon 39 in Berlin.

17.9.: In einem Jahr ist die Zahl der arbeitslosen AusländerInnen in Westberlin um 42 Prozent auf 24.000 gestiegen.

17.9.: Die Friedhofsmauer der Jüdischen Gemeinde Adass Jisroel in Weißensee wird mit einem Hakenkreuz beschmiert.

24.9.: Bei zwei Buchhandlungen werden die Scheiben eingeworfen. In einem Plakat hatten sie dazu aufgefordert, sich der rechten Gewalt entgegenzustellen.

28.9.: Die „Woche der ausländischen Mitbürger“ beginnt mit einer Brandstiftung im einstigen KZ Sachsenhausen.

1.10.: Ein 26jähriger Brasilianer wird in der U-Bahn von deutschen Jugendlichen mißhandelt. Die Fahrgäste schweigen.

6.10.: Die Berliner CDU will das individuelle Grundrecht auf Asyl durch die Genfer Flüchtlingskonvention ersetzen.

7.10.: In Hohenschönhausen tauchen rassistische Hetzflugblätter im Zusammenhang mit der geplanten Verlegung der Asylstelle auf. Hohenschönhausener Bezirksamt und ÖTV äußern massive Sicherheitsbedenken gegen den geplanten Standort.

9.10.: Jede Nacht versammeln sich Hunderte von Jugoslawien- Flüchtlingen vor der Außenstelle der Ausländerbehörde am Waterloo-Ufer, um eine Duldung zu beantragen oder verlängern zu lassen.

27.10.: Der Geschäftsführer einer Elektrofirma und Vizepräsident der Handwerkskammer, Klaus-Peter Müller, redet Klartext: Deutsche wollten im eigenen Land nicht „Diener bzw. Ernährer von Fremdlingen“ sein.

31.10.: Das Immigrantenpolitische Zentrum (IPF) verzichtet auf bildungspolitische Veranstaltungen für Immigranten und Flüchtlinge. Ihre gesamte Zeit beansprucht die Betreuung der Opfer von rassistischer Gewalt.

6.11.: Das Bundesverwaltungsgericht gewährt den rund 35.000 vietnamesischen VertragsarbeiterInnen in der BRD keinen Abschiebeschutz.

8.11.: Auf einer Großdemonstration marschieren rund 350.000 Menschen gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und für den Erhalt von Artikel 16 Grundgesetz zum Lustgarten.

9.11.: Vor dem geplanten Flüchtlingswohnheim in der Rudolf-Seiffert-Straße in Lichtenberg werden ein Auto und mehrere Müllcontainer angezündet.

16.11.: Drei Skins zwingen einen 38jährigen in Hellersdorf, ihren Sieg-Heil-Gruß zu erwidern. Durch Schläge mit einer Pistole erleidet er eine Schädelfraktur.

20.11.: Der 27jährige Hausbesetzer Silvio Meier wird von einem 17jährigen Hooligan erstochen.

23.11.: Mit einem Schweigemarsch auf dem Kurfürstendamm gedenken mehr als 5.000 Menschen der türkischen Opfer des Brandanschlags von Mölln.

1.12.: Der Senat beschließt ein 70-Millionen-Programm gegen den Rassismus und Gewalt.

2.12.: Skinheads beschimpfen die Mutter eines farbigen Kindes auf dem Flughafen Schönefeld als „Negerhure“ und gießen ihr Joghurt über den Kopf. Zwei Beamte des Bundesgrenzschutzes, die um Hilfe gebeten werden, fühlen sich „nicht zuständig“.

9.12.: In einer ersten Massenaktion nach Abschluß des „Rückführungsabkommens“ mit Rumänien werden 113 Menschen vom Flughafen Schönefeld abgeschoben.

11.12.: Nach dem bundesweiten Verbot der „Deutschen Alternative“ (DA) wird in drei Berliner Wohnungen umfangreiches NS- Propagandamaterial sichergestellt.

14.12.: Hohenschönhausener beseitigen rassistische Propagandasprüche vom S-Bahnhof. Monatelang konnten Anhänger der „Nationalistischen Front“ ihr Weltbild dort zur Schau stellen.

23.12.: SOS Rassismus organisiert seit vier Monaten Nachtwachen vor Flüchtlingsheimen.

25.12.: Mehr als 200.000 Menschen nehmen an der Lichterkette gegen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus teil, die die Stadt vom Lustgarten bis zum Theodor-Heuss-Platz erleuchtet. wdh/usche

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