Das Ende einer ostdeutschen Universität

■ Die Erfurter Medizinische Akademie wird mit heutigem Datum abgewickelt

Erfurt (taz) – Nur während der Wende waren solche Massen auf den Erfurter Straßen, hat ein Thema die Menschen derart politisiert und sensibilisiert. Gewaltige Demonstrationen, Hearings, Rücktrittsforderungen, Verratsbezichtigungen, Hungerstreiks. Die Landtagsfraktionen der Koalition gegen die eigenen Minister, gegen die eigene Regierung. Minister, die heute vor der Studentenschaft und dem Lehrkörper der Medizinischen Akademie Erfurt feierlich den Erhalt der Hochschule verkünden, um morgen im Brustton der Überzeugung zu erklären, die Akademie sei beim besten Willen nicht mehr zu retten.

Die medizinische Hochschule Erfurt war eines der Glanzstücke des DDR-Wissenschaftsbetriebes. Sie wurde erst 1952 gegründet und ist wegen ihrer hervorragenden Ausbildungsbedingungen für Human- und Zahnmediziner bei den Studenten, Hochschullehrern und Wissenschaftlern gleichermaßen außerordentlich anerkannt. Die MA Erfurt versorgt den gesamten Nord- und Westthüringer Raum medizinisch ambulant und hat trotz mittlerweile zahlreicher in der Region niedergelassener Ärzte nichts von ihrer Akzeptanz unter den Menschen verloren.

Die Bevölkerung der Region stand von Anfang an auf seiten der 3.900 Beschäftigten der Akademie. In allen Aktionen zum Erhalt kam zum Ausdruck, daß die Stadt nicht imstande ist, auf einen ihrer größten Arbeitgeber zu verzichten. Allein die absehbare Abwanderung beziehungsweise die Arbeitslosigkeit von 1.100 medizinisch hochqualifizierten Mitarbeitern würde einen Nachfrageverlust von zirka 40 Millionen Mark für die Kommune bedeuten. Die jährlichen Ausgaben der Medizinstudenten in Erfurt liegen bei 5,8 Millionen Mark. Die Bauaufträge des Klinikums betrugen 1992 13 Millionen Mark.

Die Proteste der Bevölkerung nahmen im Laufe der Auseinandersetzung immer dramatischere Formen an. Blockaden des Thüringer Landtages durch Sanitätswagen und sonstiges medizinisches Großgerät. Studenten, die sich auf Tragen im Gebäude gegenüber im Hungerstreik befinden.

Der Wissenschaftsminister Fickel erhält von der Jungen Union den Titel Unwissenschaftsminister. Der Erfurter OB Manfred Ruge droht, wenn die Medizinische Akademie abgewickelt wird, mit seinem Rücktritt. Der Magistrat der Stadt Erfurt hat nach Ansicht Ruges keine Möglichkeit, die 2.100 Betten des Hochschulklinikums und den Etat von zirka 90 Millionen, der durch ein geplantes Krankenhaus der Maximalversorgung keinesfalls niedriger würde, in kommunale Trägerschaft zu übernehmen. Ein Hochschulbett erhält gegenüber einem kommunalen Krankenhausbett außerdem 200 Mark mehr. Unverzichtbar für die Stadt auch jene 30 Millionen, die ein Hochschulklinikum mehr an Gütern und Dienstleistungen verbraucht. Privatkliniken schielen bereits nach den Filetstücken der Akademie. Ein Containerhotel, erst vor kurzem auf dem Klinikgelände errichtet und in den Erfurter Hotelskandal involviert, soll schon an eine Schweizer Unternehmensgruppe verkauft worden sein, die wiederum mit einem privaten, westdeutschen Krankenhausunternehmen liiert ist.

Nur die Universität Jena soll zukünftig in Thüringen noch Ärzte ausbilden. Die dortige Universitätsleitung hat sich schon so kollegial wie vorauseilend liebedienerisch zu Wort gemeldet und erklärt, die Ausbildung der gegenwärtigen Erfurter Studentengeneration zu übernehmen und zu gewährleisten. Kritiker aber bezeichnen das Abwicklungskonzept der Thüringer Landesregierung als Milchmädchenrechnung. Die Großstadt Erfurt mit 230.000 Einwohnern benötigt ohnehin ein Krankenhaus der Maximalversorgung. Die Kosten dafür sind nach Ansicht seriöser Gutachter eher noch höher als für eine Medizinische Akademie.

Wenig nützt Ministerpräsident Vogel der Hinweis auf die 1814 geschlossene und in Kürze neu zu gründende Erfurter Universität. Sie war einst die zweitgrößte im Heiligen Römischen Reich und soll nun wiederbelebt werden. Allerdings nur für Geisteswissenschaften. Es ist die erste Hochschule der neuen Bundesländer, die im Jahre 1993 den Bach hinuntergeht. Nicht aber die letzte, schwanen Kenner der Szene. Wenn schon ein Monument wie die Erfurter Akademie unter den Hammer kommt, helfen den Schwächeren unter ostdeutschen Lehreinrichtungen erst recht keine Götter mehr.

Was bleibt? Die Rückbesinnung auf die Medizin des Mittelalters. Auch der berühmte Dr. Eisenbart hat in Erfurt sein Wesen getrieben, Schüler ausgebildet und die Leut' auf seine Art kuriert.

Die Quacksalber bekommen Zulauf. In der Medizin wie der Politik. Henning Pawel