Knallköppe, Sektduschen und ein Dorfrummel

■ Sylvester in Hamburg: Impressionen von einer Nacht, die man besser im Bett verbringen sollte / Hirnloses Geballer allerorten

: Impressionen von einer Nacht, die man besser im Bett verbringen sollte / Hirnloses Geballer allerorten

Wenn Hammonias Bewohner und Bewohnerinnen das Neue Jahr begrüßen, wünschen sie sich, die Hansestadt wäre ein Dorf.

Das scheinen zumindest die Verantwortlichen von Radio Hamburg, der Bild-Zeitung und West gedacht zu haben, als sie die Messehallen zu einem Dorfrummelplatz für die größte Sylvesterparty Norddeutschlands herrichteten.

Ein Kettenkarussell sorgte für die Bewegung der 10000 Besucher. Schieß-, Los- und Dosenwerf-

1buden komplettierten das Jahrmarkts-Ambiente. Auf der einen Bühne schrammelte eine Band Coverversionen von Marius Müller- Westernhagen. Bei Lebkuchenherzen, Hamburger Speck und Wiener Mandeln produzierte sich auf der anderen das Publikum selbst mit Karaoke. Tralala bei der einen Disko, der mainstreamigen, Rumtatatatata bei der anderen, der Technotanzlustbarkeit. Mittenmang Spontan-Polonäsen. Kleiderordnung egal. Ein Papphütchen hier,

1ein Smoking dort. Auf den Treppen und Zugängen ein Zuviel an körperlicher Nähe, einem Winterschlußverkauf bei C&A gleich. Die Anbandelmechanismen funktionierten trotzdem, wie beim Dorffest in Nahe, einem kleinen Örtchen, zwischen Norderstedt und Bad Segeberg gelegen.

In Ermangelung eines Dorfplatzes in der norddeutschen Metropole traf sich Rest-Hamburg zum pyromanischen Treiben an den Landungsbrücken. Peng, Puff, Zisch, Zong, bevorzugter Ort Brücken. „Das hallt so schön“, äußerte sich ein begeisterter Zehnjähriger gegenüber seinem Vater. Da störte auch nicht der scheinbare Unrat unter der einen Unterführung: die Nachtlager der Penner.

„Noch fünf Minuten“, tönte es aus dem Lautsprecher des Löschzuges der Berufsfeuerwehr Wilhelmsburg. Auch die vergingen.

Zisch, Peng, Puff, Klonk. 1992 ist ausgestanden. Ein Prost auf 1993. Hinzu noch eine kleine Sektdusche für die Umstehenden. 35000 HamburgerInnen bedeckten die Anleger und die Anhöhen des Hafens wie Silberfischlein eine vor sich hinmodernde Spüle. 57 von ihnen mußten von Rettungssanitätern der Feuerwehr wegen des Geballeres ambulant behandelt werden.

Kurz nach Mitternacht, zu der Zeit also, als die Fernsehsender vorwiegend Programme für das männliche Souterrain ausstrahlten (ARD: Show aus dem Moulin Rouge, ZDF: Sonne, Sex und Strandgetümmel, RTL: Drei Oberbayern auf Dirndljagd, SAT 1: Das nackte Pokerspiel), erbrach eine Fünfzigjährige auf der Reeperbahn die zuviel konsumierten Getränke — fast so, als wollte sie sich auf diese Weise des alten Jahres entledigen.

Auch hier auf der sylvestrigen Hauptstraße: Peng, Puff, Zisch, Klonk, für die unersättlichen Knallköpfe gibt es noch Böller an Ständen vor den Sex-Shops zu kaufen. Die längste Schlange indes war vor dem Mojo-Club, durch Sperrgitter geschützt. Innen: ein Ort der Friedlichkeit. Nur die Berliner und die penetrante Überfüllung erinnern an das Treiben draußen.

Die Reeperbahn schwarz von

1Menschen. Viel Jungvolk beim Bemühen, von Club zu Club zu eilen, mit dem steten Gefühl, dort wo man nicht ist, etwas zu versäumen.

Unterdes in den bekannten Häusern der Hafenstraße. Bei Guinness (Becher 5 Maark plus eine Maark Pfand für das Plastikgefäß) trällert aus den Lautsprechern im Ahoy „Shiny happy people“ von REM, von gewollt fröhlicher Sylvesterstimmung keine Spur. Auch die Versammlung bei Onkel Otto erscheint eher wie das Bild einer friedlich vor der Lindenstraße versammelten Schenefelder Kleinfamilie.

Autonome Pose herrscht anderswo. In der Kneipe Lehmitz etwa, als die Polizei dort einen mutmaßlichen Dieb stellen will und mit zwanzig Mann das Lokal stürmt. Mut-angetrunkenes ACAB („All Cops Are Bastards“)-Gegröle von ein paar Nachwuchspunks, keine Reaktion von Seiten der Polizei. Die dafür dann in der Davidswache, als alkoholenthemmte Tou-

1risten es wagten, den Diensthabenden ein Frohes Neujahr in die Wache zu rufen. Einem genervten Jugendherbergsvater gleich verwies sie der Schichtleiter des Raumes.

Anderenortes: Im Atlantikhotel beim Diner in Abendgarderobe in einer Nacht einen Sozialhilfesatz verprassen, das war nicht die Sache der Feiernden im Silbersack, einer sehr volkstümlichen Kneipe auf St.Pauli. Hans Albers, der blonde Hans, war hier die musikalische Untermalung des Abends.

Auch im Asylantentrakt des Hotels Inter-Rast herrschen andere Vorstellungen von einer Sylvesterfeier vor als im Nobelhotel. Geballer auch hier, wie allerorts, allerdings keine Gelegenheit für die Osteuropäer und Schwarzafrikaner, im Hause zu feiern. Die Hausordnung geht vor.

Der letzte Schlacht der Nacht: der Kampf ums Taxi. Auch hier Pöbeln, Prügeln und Knallen und der Vorsatz, im nächsten Jahr den Termin zu verschlafen. Kai Rehländer