Was tun, wenn Skins kommen?

Schutzwache von „SOS Rassismus“ vor einem Asylbewerberheim in der Silvesternacht/ Zu dem befürchteten Überfall kam es nicht, dafür aber zu einer Party  ■ Von Bernd Pickert

Hinter einem Maschendrahtzaun, der das Asylbewerberheim von der Straße abtrennt, laufen wir auf und ab, behalten die Straße im Auge. Gegenüber eine Kaserne der Roten Armee, leer. Hinter uns liegt ein flaches Gebäude, alle Rolläden sind heruntergezogen, von drinnen dringt fremdländische Musik auf die ruhige Straße. Das Haus ist eines von drei Asylbewerberheimen einer kleinen Kreisstadt im Süden von Berlin, wir gehören zur Schutzwache, die die Berliner Organisation „SOS Rassismus“ in dieser Silvesternacht auf die Beine gestellt hat, um ausländerfeindliche Überfälle zu verhindern.

Kurz nach 22 Uhr waren wir mit sechs Berliner Autos nach eineinhalb Stunden Fahrt angekommen. In dem kleinen vor eineinhalb Jahren schnell errichteten Containerbau leben neunzig Menschen, die meisten sind Sinti und Roma aus Rumänien, aber auch Flüchtlinge aus Vietnam, Nigeria, Angehörige der türkischen Minderheit in Bulgarien.

SOS Rassismus war informiert worden, daß es bei einem zweiten Heim in der Stadt, direkt neben einer Disco und einem Jugendclub gelegen, in den letzten Wochen häufig zu Konflikten gekommen war. Für die Silvesternacht wurden Übergriffe befürchtet, viele Gerüchte kursierten. Eigentlich, so hieß es, sollten die fünfzehn BewohnerInnen des anderen Heimes für diese Nacht ausquartiert werden. Als wir eintreffen, erweist sich diese Nachricht als falsch, alle Flüchtlinge sind noch dort. Wir teilen uns auf, der Großteil der Gruppe fährt zu dem anderen Heim, das stärker gefährdet scheint.

Wir bleiben mit acht Männern und drei Frauen im Containerbau. Telefonkontakt zu den anderen ist vereinbart, nachdem uns der Hausmeister die gelegentliche Benutzung des einzigen Telefons in seinem Büro zugesichert hat. Er war zunächst mißtrauisch gewesen, hatte uns nicht hereinlassen wollen. Ein Anruf bei der örtlichen Polizei, SOS Rassismus ist dort bekannt – wir dürfen bleiben. Wahrscheinlich aber hätten uns die Flüchtlinge selbst ohnehin nicht wieder gehen lassen. Sie freuen sich, daß wir da sind.

Wir versammeln uns im Aufenthaltsraum. In dem einstmals weiß gestrichenen Zimmer stehen zwei alte Tische, einige klapprige Stühle, zwei Sessel, aus deren Polster der Schaumstoff quillt. An der Wand hängen Reste eines Plakats „Save The Rainforest“, ein Farbfernseher bringt „Schmitts Mitternachts-Show“ live aus Hamburg. Noch haben wir nicht besprochen, wie wir die Wachen vor und hinter dem Haus einteilen, da schreiten die rumänischen Frauen zur Tat. Im Nu sind die Tische zur Tafel zusammengerückt, werden Zeitungen als Tischdecke ausgelegt, Nudelsalat, Brot und Wurst ausgepackt und Kaffee gekocht. Mila aus Rumänien, die sich zur Silvesterparty in ihr langes Silberpallettenkleid mit goldfarbenem Besatz geworfen hat, reicht uns Whisky zur Begrüßung; wir lernen Rumänisch: „Norok“ heißt Prost.

Ein Kassettenrecorder mit türkischer Musik läuft auf voller Lautstärke, unzählige Kinder aller Altersstufen toben umher, die Männer stehen in Shorts bei uns und trinken Dosenbier, ein kleiner Junge fährt mit einem großen grünen Plastik-Trecker ratternd über den Holzboden. Irgendwie schaffen wir es, uns kurz über unser Vorgehen zu verständigen, die Feuerlöscher ausfindig zu machen, die Ausgänge des Gebäudes zu besichtigen. Die Flüchtlinge wollen mit uns feiern. Ihre Neugier ist groß, alle gucken, was da für Leute gekommen sind. Viele von uns nehmen zum ersten Mal an einer Schutzwache teil und hatten sich alles ganz anders vorgestellt. Gemischte Gefühle haben wohl alle mitgebracht, Diskussionen über Taktik und Verhaltensmöglichkeiten bei Provokationen oder Überfällen hatten die Vordiskussionen bestimmt. Was tun, wenn die Skins kommen? Und nun sitzen wir an dieser fürstlich gedeckten Tafel und sind verblüfft.

Doch die Gerüchte über rechte Aktionen müssen ernst genommen werden. Wir richten Wachen vor und hinter dem Haus ein, fünf Leute sind ständig draußen, der Rest wärmt sich auf. Vom Tor des Heimes ist die Straße gut zu übersehen. Von hier wenigstens kann niemand unbemerkt kommen. Ein weißer Wagen fährt langsam vorbei, wendet und hält vor dem Haus. Aber es sind keine „Faschos“, sondern Zivilbeamte der Kripo, die mit dem Hausmeister sprechen wollen. Auch der Streifenwagen ist schon zweimal vorbei gefahren, es scheint, als wolle die Polizei in dieser Nacht tatsächlich aufpassen.

Es geht auf Mitternacht zu. Mittlerweile dröhnen etwa vier Kassettenrecorder gleichzeitig, auf den Gängen wird getanzt. Würden wir die uns angebotenen Mengen an Alkohol bewältigen, wir wären eine traurige Wache. Der Kleine mit dem grünen Plastik-Trecker radelt immer noch durchs Heim, der Geräuschpegel ist atemberaubend. Gerade noch würden wir die Trillerpfeifen von draußen hören, müßten unsere Wachen jetzt Alarm geben.

Mitternacht, die Sektkorken knallen, vom Stadtzentrum aus steigen Raketen in den Himmel, an den Wohnhäusern einige hundert Meter entfernt knallen Böller. Auch einige der Flüchtlinge haben Feuerwerk gekauft. Ein junger Rumäne will eine Rakete aus der Hand starten, verbrennt sich die Finger und wirft sie schließlich aufs Dach. Die Kinder toben mit Knallfröschen vor dem Haus herum, wir sind jetzt alle draußen. Das ganz normale Silvesterritual kommt uns doch komisch vor an diesem Ort.

Die nächsten drei bis vier Stunden, so denken wir, sind die entscheidenden, wenn die Jugendlichen der Stadt betrunken von ihren Silvesterparties zurückkommen. Gegen 1 Uhr telefonieren wir erneut mit den SOS-Leuten im anderen Heim. Dort sind zwar viele Böller in die Nähe des Heims geflogen, einige Drohgebärden von Jugendlichen. Angriffe hat es jedoch nicht gegeben, alles ist ruhig.

Bei uns hat sich das Fest der BewohnerInnen aus dem Aufenthaltsraum in die Zimmer verlagert. Die Kinder toben im ganzen Haus herum, zu fünft schieben sie den kleinen Treckerfahrer durch die Gänge. Die Erwachsenen werden betrunkener und scheuchen die Kinder herum. Für den Trecker naht das Ende, als er einem Rumänen, wohl seinem Vater, von hinten in die Kniekehlen fährt. Der reißt ihm den Plastikwagen weg, stürmt entschlossen nach draußen und schmeißt den Trecker aufs Dach.

Langsam kehrt ein bißchen Ruhe ein. Im Fernsehen bangen Gregory Peck und Gene Hackmann um die Zukunft eines im Weltall verschollenen Raumschiffs. Es ist zwei Uhr. Noch immer sind wir ständig mit mindestens fünf Personen vor und hinter dem Haus. Kleine Gruppen von Jugendlichen kommen vorbei. Einige wünschen ein frohes neues Jahr. Zwei 16-, 17jährige Jungs gehen knurrend vorbei, schmeißen uns noch einen Böller vor die Füße und sehen zu, daß sie weiterkommen. Wir sind zu diesem Zeitpunkt zuversichtlich, daß nichts mehr passieren wird. Die Polizei fährt wieder vorbei.

Die Männer drinnen haben jetzt die „Verbotenen Spiele auf der Schulbank“ bei RTL entdeckt – „Gut Programm, Erotick!“ – und trinken weiter Whisky. Ein Rumäne steht bei uns am Tisch und unternimmt den schwierigen Versuch, in gebrochenem Deutsch seine Meinung über das Zusammenleben der Völker verständlich zu machen. Seine kleine Tochter kommt, tritt ihm in den Hintern und bestellt auf deutsch Grüße von der Mutter auf Zimmer 14: „Komm nach Hause, Asylant!“ Er geht schlafen.

Es ist fünf Uhr, fast niemand ist mehr auf der Straße. Auch im Heim sind nur noch wenige auf den Beinen. Ein Wagen von der Schutzgruppe aus dem anderen Heim kommt zu uns, die Nacht ist vorbei, es ist nichts passiert. Wir verabschieden uns herzlich von den letzten Aufrechten im Heim, ein Schluck noch – auf ein gutes neues Jahr.

Auch 1993 wird SOS Rassismus seine Schutzwachen vor Flüchtlingsheimen kontinuierlich weiterführen. Nicht überall stehen Telefone zur Verfügung, deshalb werden dringend Geldspenden für Funktelefone, aber auch für Öffentlichkeitsarbeit benötigt. Spendenkonto: Sparkasse Berlin, BLZ 10050000, Konto-Nr.: 1120046420