Schweiß verbindet

Die Schwitzhütten-Zeremonie, indianisches Ritual der Wiedergeburt.  ■ Von Thomas Meiser

Einzig die Zeit währt ewig. Vor allem dann, wenn man im Ungewissen warten muß. Aber wo, zum Scheitan, steckt bloß der Schamane? Seit Tagen rückt keiner der in Ückendorf versammelten Erdenjünger so recht heraus mit der Sprache. Dabei will das bunte Völkchen doch als wissend gelten, sofern es um die Frage aller Fragen geht. Oft raunen sie achselzuckend, der Geisterbeschwörer habe sich verflüchtigt. Einige weisen, nach dem Heiler befragt, unbestimmt in die Ferne. „Hinten, bei seinem Tipi, dort könnte er wohl sein.“ Doch vor diesem Tipi bellt nur ein Wachhund, der sich schon mit guten Worten zähmen läßt. Allerdings scheint das Zelt bewohnt, denn hier riecht es nach Rauch. Leider hat das Indianerhaus keine Klingel. Nicht einmal eine Tür öffnet sich dem Suchenden, also muß man volle Elle auf die Zeltbahn klopfen. Bei allen Göttern, wo ist der Schamane? Von innen antwortet eine verschlafene Frauenstimme: „Der Jürgen wird schon kommen. Und wenn er nicht kommt, dann leite ich eben die Schwitzhütten-Zeremonie.“

In dieser Sekunde fährt ein Auto vor. Zufall? Jürgen, Schamane aus Berufung, leibhaftiger Mittler zwischen Menschen und Geistern, ausgebildeter Zeremonienmeister des Schwitzhütten-Rituals, entsteigt einem staubigen alten Kombischlitten. „Scheiße, der ganze Ruhrschnellweg war dicht“, knurrt er, „ich hab' Stunden im Stau gestanden.“ Von der Frau im Inneren des Tipis will er wissen, wie viele Menschen sich zum heutigen Schwitzhütten-Ritual angemeldet haben.

Die Neigungsindianerin wird Phoenix gerufen. „Den Namen hab' ich von einer Medizinfrau, soweit ich weiß, is Phoenix 'ne Sagenfigur“, erläutert sie sich. In der letzten Woche war das Interesse an Schwitzhütten im Ruhrgebiet größer als erwartet, mehr als siebzig Menschen heizte der Heiler im Rundzelt am Waldessaum ein. Das bewog den Schamanen dazu, zusätzliche Termine anzusetzen. „Mich wundert das nicht, denn die Schwitzhütte ist eine sehr schöne Methode, sich weiterzuentwickeln und gleichzeitig ein Geborgenheitsgefühl zu bekommen“, erläutert er abgeklärt. Phoenix gibt im Indianerzelt einen kurzen Rapport, während sie im Schneidersitz versiert einen Mokassin näht. „Der Koch wollte mitmachen, und auch der kleine Student, der nur Dinkel ißt und Brennesseltee trinkt.“ Die Squaw hat ein tätowiertes Herz am linken Daumen, sie trägt einen Talisman aus Haaren. Und tatsächlich glimmt ein kleines Feuer im Tipi, der Rauch entweicht oben in einer Öffnung des Zeltdaches. Beschaulich lebt es sich in den Weiten der Prärie zwischen Gelsenkirchen-Uckendorf und Wattenscheid-West: Langsam steigt der Mond empor, morgen ist Vollmond. Der Birkenhain im Hintergrund wiegt sich sanft, allmählich verliert sich das Realitätsprinzip im Äther. Plötzlich fiept im Tipi eine Quarzuhr fordernd, das Schwitzhütten-Ritual kann pünktlich beginnen.

Während von Schwitzwilligen in Würde das Holz gesammelt wird, nicht ohne sich dafür zu bedanken, daß es sich fürs Feuer hergibt, offenbart Jürgen, der Schamane, die geheimen Bedeutungen der Zeremonie. „Zunächst machen wir ein Feuer, welches das männliche Prinzip repräsentiert. Darin erhitzen wir Steine, für uns sind es die Samen von Großvater Sonne.“ Nicht eine beliebige Anzahl Steine wird heißgemacht, sondern genau 44, „weil einerseits diese Zahl heilig ist und man andererseits eine Menge Steine braucht“. Sind die Sonnenspermien erhitzt, gelten sie in der Schwitzhütte, dem Uterus der Erde, als überaus fruchtbar. „Denn in der Hütte produzieren die Steine ein ganz tolles Gefühl für die Erde“, verheißt der Schamane. Vorausgesetzt, die Basaltbrocken wurden vorher von der Feuerfrau gesegnet. Phoenix ist heute die Feuerfrau, damit fällt ihr das Privileg zu, die heiligen Kräfte anzurufen. Von denen gibt es zwanzig. „Ich rufe die vier Himmelsrichtungen, Liebe, Vertrauen und Hoffnung“, steigt sie ein. „Heilige Kräfte, nehmt diese Prise heiliger Kräuter – Erde, Wasser und Luft, kommt in diese Schwitzhütte.“ Auch Ahnen und Tiere beschwört die Feuerfrau lautstark, während sie Salbei in die lodernden Flammen wirft. Yin, Yang und die Choreographie der Energiebewegungen werden angerufen. „Hallo, ihr Feuergeister, macht es schön warm hier“, spricht die Priesterin pragmatisch, eingedenk der spätherbstlichen Temperatur. Und der Zauber wirkt, plötzlich ist es so warm, daß die Lederjacke ausgezogen werden kann. Nur der Schamane behält seine an, er ist zu stark erkältet.

An die Schwitzwilligen werden sandgefüllte Kalebassen ausgegeben, eine Handtrommel gibt einen langsamen Rhythmus vor. Der Schwitznovize aus Bochum, zum Feuer des Abends trägt er Mokassins, schlägt mit seiner Kalebasse im Takt achtlos auf Mutter Erde herum. Der Mann wirkt ein wenig nervös. Aber die ehrfürchtigen Gesänge zweier erfahrener Schwitzerinnen beruhigen auch ihn. „Spirit of the rain, wish away my pain [meine auch, bitte! d.sin]/ spirit of the fire, burning desire/ spirit of the ocean, depth of emotion“, singen die weisen Frauen mit Inbrunst. Langsam brennt das Feuer nieder, und die Spannung steigt. Zwei Hunde, vom Feuer angelockt, werden von Schwitznovizen zur Erregungsabfuhr genutzt. Während sie ihre vierbeinigen Verwandten kraulen, schreitet der Schamane im Ritus voran. Er heißt die Teilnehmenden, sich zu entkleiden, steht plötzlich selbst im Morgenmantel da. „Bevor ich es vergesse, bitte ich euch um eine kleine Spende, vielleicht 20 Mark“, fordert er von den fröstelnden Freiwilligen, dieweil seine Rechte mit einem Adlerflügel wedelt. Susanne, auch sie wohnt im Tipi, bietet dem Schamanen einen Lederbeutel als Spende dar. „Toll, das trägt sich gut auf der Haut“, sagt der Schwitzhütten-Leiter beglückt.

Mit dem magischen Adlerflügel segnet er die nackten Leiber, die in Form einer stehenden Schlange der Wiedergeburt im Schoß der Mutter Erde harren. Ein jeder Schwitzwillige sucht sich, den Gebräuchen gemäß, im Uhrzeigersinn seinen Platz in der Hütte. Innen ist es zappenduster. Und natürlich noch schweinekalt. Wer nicht auf Gras sitzt, sitzt auf seinem Handtuch. Die Feuerfrau schafft mit ihrer Metallgabel zur Rotglut erhitzte Steine heran. Sie läßt sie ins Erdloch plumpsen. „Vorsicht, schöne heiße Steine“, deklamiert sie immer wieder. „Seid gesegnet, ihr schönen heißen Steine“, psalmodiert der Schamane, bestreut die Sonnensamen mit Salbei und zieht immer wieder seinen Nasenschleim hoch. Sofort verglüht der Salbei auf den Steinen, ziemlich harmlos und richtig nett sieht das aus. Von außen wird das Zelt luftdicht verschlossen.

Zunächst stellt sich das Kamingefühl ein: vorne heiß, hinten kalt. Der Schamane beschwört schon wieder alle möglichen Geister. Bei Gott, es gibt viele. Dabei gießt er Wasser auf die Steine, immer wieder, bis die wenige Luft durch den Dampf glühend geworden ist. Bis es schmerzt, wenn man atmet. Bis man eine absolut konkrete Vorstellung davon bekommt, was es bedeutet, bei lebendigem Leib gesotten zu werden. Hechel! In der ersten Runde beten die Gedünsteten für sich selbst. Und zwar laut: Jeder muß den wildfremden anderen bekennen, was er für sich immer schon gewünscht hat. Schweiß verbindet! Zur Belohnung gibt es eine weitere Wolke Dampf, denn der Dampf trägt die Wünsche zum Himmel. So sei es! Die anderen summen und klatschen in die Hände. Möglich, daß sie während der Schinderei Platzangst haben. Oder Atemnot. Und Schweißausbrüche natürlich. Nur noch drei Runden. Jetzt wird für andere gebetet. Gott, Welt und Hitze zu verfluchen läuft nicht, auch hier muß das Gebet laut heraus. Also befördert der tödliche Wasserdampf viel Idealismus in den Nachthimmel, dort kondensiert er nach den ewigen Gesetzen der Thermodynamik.

Allmählich werden die Gequälten zu Tieren, der Schwitzhütten- Leiter will es so. Jeder schreit im archaischen Code des Tieres, das er in Wahrheit ist. Ein babylonischer Zoo. Weinen, Lachen, Husten. Um frische Steine zu holen, wird nach unbestimmter Zeit die Hütte geöffnet. „Wenn ihr mit der Nase am Boden bleibt, kriegt ihr vielleicht etwas Luft“, macht der Schamane den Gemarterten Mut. „Neue heiße Steine“, krakeelt die Feuerhexe mit maliziösem Timbre. Tür zur, Wasser dampf! Subjektiv betrachtet, verläuft jede Schwitzrunde schlimmer als die vorangegangene, und das ist die einzige Sichtweise, die hier zählt. Die letzte Runde ist dem Osten geweiht, nur der Osten ist totenstill. Schwach ist zu hören, wie der verschnupfte Schamane eine Kelle nach der anderen auf die Feuersteine scheppt. Ununterbrochen. Keine Kraft zum Husten mehr. Sinn, Raum, Zeit und Kreislauf werden zu relativen Größen, stoßen empor zu ungekannten Dimensionen, aber da ist auch nichts los. Und so taumeln sie in freiem Fall herab. Die Bezugsgrößen des Seins manifestieren sich endlich in einem mittleren Kreislaufkollaps auf der Wiese vor der Schwitzhütte. Hugh! So war es! Einen ganzen Adlerflügel für ein trockenes T-Shirt, vielleicht mit der Aufschrift: Ich habe die Schwitzhütte überlebt.

„Insgesamt eine sehr sanfte Schwitzhütte“, befindet Susanne, die sich in bitterkalter Nacht draußen vom Feuer trocknen läßt. Sie lädt die Wiedergeborenen in ihr Tipi zur Gemüsesuppe ein. Vielleicht gibt es statt dessen auch kaltes Bier.