piwik no script img

Deutsche Richter mit rechter Sehstörung

Auch nach Mölln verurteilen die Richter Brandanschläge nicht als versuchtes Tötungsdelikt/ Phantasievolle Zubilligung strafmildernder Umstände als Regelerscheinung  ■ Von Bernd Siegler

Nach den Morden von Mölln waren sich alle einig: eine härtere Bestrafung von rechtsextremistischen Gewalttätern müsse her. Kein Tag verging, an dem nicht Generalbundesanwalt Alexander von Stahl, Kanzler Helmut Kohl, die Innen- und Justizminister oder die Opposition diese Forderung erhoben haben. Selbst Rainer Voss, der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, redete seinem Stand ins Gewissen. Den lautstarken Forderungen folgten jedoch im Bereich der Justiz nur zögerlich auch entsprechende Taten.

Lediglich im Bereich der Ermittlungs- und Anklagebehörden hat sich etwas Entscheidendes getan. Dort hat sich nach siebzehn Toten und über 4.000 rassistisch motivierten Straftaten im letzten Jahr die Meinung durchgesetzt, daß das Werfen eines brennenden Molotowcocktails auf eine bewohnte Flüchtlingsunterkunft ungeachtet der konkreten Wirkung, die der Brandsatz verursacht hat, durchaus als versuchtes Tötungsdelikt, also als versuchter Mord oder Totschlag, geahndet werden sollte. Nicht mehr wie zuvor nur als versuchte Brandstiftung, versuchte Körperverletzung, Landfriedensbruch oder Sachbeschädigung.

Seit jener Novembernacht in Mölln sind die Staatsanwälte von Potsdam bis Hagen, von Stuttgart bis Schwerin und von Lüneburg bis Gießen durchweg nicht zimperlich, Haftbefehle wegen versuchten Mordes nach derartigen Delikten gegen die jetzt meist sehr schnell gefaßten Täter auszustellen.

Es bleibt abzuwarten, wieviel von diesem Tatvorwurf dann bei den fertigen Anklagen noch übrigbleiben wird. Aber spätestens von den urteilenden Richtern wurde und wird dieser Vorwurf durch die Bank fallengelassen. Zuletzt in Hagen, wo sich zwei Jugendliche wegen des Werfens dreier Brandsätze auf eine von 54 Flüchtlingen bewohnte Baracke verantworten mußten. Vergeblich hatte der Staatsanwalt auf versuchten Mord plädiert. Am 23. Dezember verurteilte die Erste Jugendstrafkammer des Landgerichts Hagen die beiden Haupttäter zu drei Jahren und neun Monaten sowie drei Jahren Jugendstrafe – wegen versuchter schwerer Brandstiftung und Verstoß gegen das Waffengesetz.

Offiziell verbucht die Statistik des Bundeskriminalamts für das vergangene Jahr 17 Todesopfer auf das Konto von Rechtsextremisten. Von den 15 Fällen in diesem Zusammenhang sind bislang lediglich fünf vor Gericht abgeschlossen. In keinem einzigen Fall wurde ein Angeklagter wegen Mordes verurteilt.

Im Falle des im Mai letzten Jahres in Magdeburg von Skinheads zu Tode geprügelten 23jährigen Torsten Lamprecht hat das Gericht zwar Mitte Dezember für die fünf Rädelsführer der Skinheadgruppe relativ hohe Strafen zwischen zwei und sechs Jahren verhängt, doch aufgrund der verheerenden Ermittlungstätigkeit der Polizei gelang es nicht, den Mord an Lamprecht zu ahnden. Auch im Falle der beiden Skins, die im März letzten Jahres in Buxtehude den Kapitän Gustav Schneeclaus nur deshalb zu Tode geprügelt hatten, weil dieser sich negativ über Adolf Hitler geäußert hatte, verurteilte das Gericht lediglich wegen Totschlags zu achteinhalb und sechs Jahren Gefängnis.

In einer Serie von Gerichtsurteilen, die bislang nach Rostock und Mölln gegen rechtsextremistische Gewalttäter gefällt wurden, bleiben also zwei Urteile nach wie vor die großen Ausnahmen: Mitte Dezember wurde in Frankfurt/Oder ein 24jähriger wegen versuchten Mordes zu acht Jahren verurteilt. Er hatte im brandenburgischen Wendisch-Rietz einen Nigerianer mit äußerster Brutalität lebensgefährlich verletzt und anschließend in einen See geworfen.

Ein Monat zuvor wurde ein 18jähriger Maurerlehrling vom Landgericht Landau wegen versuchten Mordes zu dreieinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt, obwohl sein Brandsatz – von der Todesangst der Flüchtlinge einmal abgesehen – keinen Schaden angerichtet hatte. Innerhalb der Richterschaft hat es sich noch nicht herumgesprochen, daß der einzige Unterschied zwischen Mölln und der Vielzahl anderer Brandanschläge der ist, daß in Mölln das Vorhaben der Täter geklappt hat.

Bei der Beurteilung des Umgangs der Justiz mit rechtsextremistischen Gewalttätern darf man sich von vereinzelten hohen Strafen wie den achteinhalb Jahren in Buxtehude, den acht Jahren in Frankfurt/Oder oder den sechs Jahren in Magdeburg nicht täuschen lassen. Noch immer kommt die Mehrzahl der wegen des Rostocker Pogroms vor Gericht sitzenden Gewalttäter mit sozialen Trainingskursen, Jugendarrest oder geringen Bewährungsstrafen davon. Noch immer erkennen Richter bei Angriffen auf Flüchtlinge plötzlich die resozialisierende Wirkung möglichst niedriger Strafen, anstatt, wie in anders gelagerten Fällen, die abschreckende Wirkung, sprich die von höchster Stelle geforderte „Generalprävention“. Allerdings: Generalprävention darf als Mittel im Jugendstrafrecht nicht angewendet werden. Die Urteile sprechen dennoch eine deutliche Sprache.

Da wertet ein Rostocker Jugendrichter am 17. Dezember das Verhalten eines wegen schweren Landfriedensbruchs angeklagten Gewalttäters als „lediglich symbolisches Aufmucken“. Da werden neun Skinheads im brandenburgischen Lukkenwalde zu sechs bis neun Monaten auf Bewährung verurteilt, die zuvor ein Flüchtlingswohnheim in Treuenbrietzen kurz und klein geschlagen hatten. Die Bewohner hatten rechtzeitig fliehen können. Da werden zwei 19jährige in Mannheim wegen Körperverletzung und verbotswidriger Herstellung von Brandsätzen zu Bewährungsstrafen verurteilt, die Molotowcocktails in ein Flüchtlingswohnheim geschleudert und dabei zwei Kleinkinder und deren Mutter verletzt hatten. Angeklagt waren die Täter wegen versuchten Mordes. Da sieht die Staatsanwaltschaft Frankenthal bei einem Überfall von sechs Jugendlichen auf ein Flüchtingswohnheim „keinen rechtsradikalen Hintergrund“, obwohl die Täter Nazi-Parolen skandiert hatten. Man ermittelt statt wegen Landfriedensbruch nur wegen Sachbeschädigung.

All diese juristischen Entscheidungen sind unter dem Eindruck von Mölln gefällt worden. Sie reihen sich ein in eine Serie von hanebüchenen Richtersprüchen, die drastisch vor Augen führen, mit welch blühender Phantasie manche Richter strafmildernde Umstände zubilligen, wenn es um rassistisch motivierte Täter geht. Da wertete im September letzten Jahres das Landgericht Frankfurt/ Oder den Mord an dem Angolaner Antonio Amadeu Kiowa als „jugendtypische Verfehlung“ und führte die politischen und gesellschaftlichen Zustände im Osten Deutschlands als mildernde Umstände an.

Da wurde im Dezember 1991 in München der führende Auschwitz-Leugner, der Deutsch-Kanadier Ernst Zündel, nur zu einer Geldstrafe wegen Aufstachelung zum Rassenhaß verurteilt. Strafmildernd wertete es das Gericht, daß „die Deutschen in ihrer überwältigenden Mehrheit so gefestigt sind, daß vom Angeklagten und seinen Mitstreitern keine ernste Gefahr ausgehe“. Da kam im Februar 1992 in Ravensburg ein 19jähriger Skin, der in Friedrichshafen einen Angolaner erstochen hatte, mit fünf Jahren Jugendstrafe wegen Totschlags mit bedingtem Vorsatz davon. „Wir mußten davon ausgehen, daß die Hautfarbe des Opfers wesentlich zu der Tat beigetragen hat“, begründeten die Richter das milde Urteil.

Daß von solchen Urteilen die zuletzt vom nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Schnoor gewünschte „präventive Wirkung“ ausgeht, darf getrost bezweifelt werden. Während der bestehende Straftatbestands- und -rahmenkatalog auch noch nach Mölln bei weitem nicht ausgeschöpft wird, wird eifrig an einer Verschärfung von Gesetzen gebastelt. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger will die Kompetenzen des Generalbundesanwalts erweitern. Um den großen Lauschangriff auch in der SPD mehrheitsfähig zu machen, kommen die brandschatzenden Neonazis gerade recht. Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU- Bundestagsfraktion Erwin Marschewski will gar den Radikalenerlaß wieder aus der Mottenkiste herausholen, und Unionsparlamentarier wollen mit einer Erweiterung des Tatbestands des Landfriedensbruchs das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit entscheidend einschränken.

Die organisierten Rechtsextremen können sich freuen. Sie haben die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl forciert und tragen durch ihre Taten dazu bei, weitere Grundrechte auf dem Weg in den von ihnen favorisierten Law-and-Order-Staat auszuhöhlen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen