Jeder vierte New Yorker ist im Ausland geboren

■ Eine Staatsbürgerschaft deutscher Prägung stößt in den USA auf Unverständnis

Der Versuch, Cetin Esat das deutsche Staatsbürgerrecht zu erklären, war nach zwei Stunden gescheitert. Daß sich Einwanderungsbehörden für das Blut von Immigranten interessieren, leuchtete ihm schon ein. Schließlich mußte er, um die US-Staatsbürgerschaft zu bekommen, einen Aids- Test absolvieren. Aus der Blutprobe eines Menschen eine Staatsangehörigkeit herausfiltern zu wollen, erschien ihm aber ebenso absurd wie undurchführbar.

Vor sieben Jahren ist Esat aus Adana in der Türkei nach Brooklyn, New York, emigriert. Politisch habe ihm einiges gestunken in seiner Heimat, sagt er, aber ein politischer Flüchtling ist er nicht. Er ist Immigrant. Fünf Jahre legalen Aufenthalt hätte er normalerweise vorweisen müssen, um den amerikanischen Paß – und damit das Wahlrecht – zu bekommen. Er mußte nur drei Jahre warten, weil er Lisa Estevez geheiratet hat, gebürtige Puertorikanerin und Polizistin in Brooklyn. „Aus Liebe“, fügt Esat hinzu, um die unausgesprochene Frage nach einer Scheinehe gleich zu beantworten. Zum gemeinsamen Familieneinkommen steuert er seinen Lohn als Mitarbeiter eines kleinen Ladens in Manhattan bei. „Immigration, Passport, Photos“ steht in großen Lettern an der Ladenfront. Hier werden Anträge auf Einbürgerung, Arbeitserlaubnis oder permanenten Wohnsitz verkauft; hier können sich Immigranten oder Flüchtlinge für 16 Dollar ihre Fingerabdrücke nehmen lassen, mit denen sie dann auf der anderen Straßenseite in einem Hochhaus verschwinden: dem Sitz des „Immigration and Naturalization Service“ (INS), jener Behörde, die in den USA für Einbürgerung, Visa und Asyl zuständig ist.

Heute ist jeder vierte New Yorker im Ausland geboren. Den Rekord hält zur Zeit Elmhurst, ein Viertel in Queens, wo Menschen aus 118 Ländern zusammenleben.

Die USA sind Einwanderungsland par excellence – folglich stößt ein Staatsbürgerrecht deutscher Prägung hier auf völliges Unverständnis. Den ethnisch definierbaren Amerikaner gibt es nicht – es gibt „Afro-Americans“, „Korean Americans“, „Polish Americans“, „Mexican-Americans“ oder „Anglo-Americans“, wie sich Weiße mancherorts definieren.

Noch nie sind so viele Menschen in die USA eingewandert wie in den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts: Die Statistiken verzeichnen 7,3 Millionen Neuankömmlinge. Einreisen darf, wer ein Visum vorweisen kann. Vorrang haben Familienangehörige von Immigranten, die bereits in den USA leben. Über 500.000 sind 1992 über diesen Weg eingewandert. Weitere 180.000 Menschen durften entweder aufgrund beruflicher Kriterien immigrieren oder erhielten ein Visum aufgrund des „Permanent Diversity Program“. Dahinter verbirgt sich die Absicht, wieder mehr Weiße ins Land zu holen. Die Mehrheit der Einwanderer kommt heute aus Mexiko, El Salvador, den Philippinen, Vietnam, Korea, Indien oder der Karibik. „Diversity Visa“ gehen zur Zeit vorzugsweise nach Irland oder Argentinien.

All das wird nichts an den Berechnungen des US-Census Bureau, zuständig für Bevölkerungsprognosen und Volkszählung, ändern. Die Behörde sagt ein Bevölkerungswachstum von 250 Millionen im Jahre 1992 auf rund 380 Millionen Menschen im Jahre 2050 voraus. Weiße werden dann statt bislang 75 Prozent nur noch 53 Prozent der Bürger ausmachen.

Dahinter verbirgt sich keine multikulturelle Utopie, sondern eine politische Realität mit zum Teil enormem Konfliktpotential, wie zuletzt die Revolte in Los Angeles gezeigt hat. Trotzdem käme kaum ein Politiker auf die Idee, mit der Forderung nach Abschottung Stimmen zu fangen. Das hat zum Teil mit dem Selbstverständnis als Einwanderungsland zu tun, zum Teil mit der Tatsache, daß jede Einwanderungsgruppe eine Wählerlobby darstellt. Wer etwa in New York für ein politisches Amt kandidiert, muß morgens mit hispanischen Arbeitern in der Bronx diskutieren, mittags mit iranischen Emigranten in Manhattan lunchen, dann die koreanischen Lebensmittelläden abklappern und abends bei russischen Juden in Queens eine Rede halten. Man will schließlich gewählt werden. Andrea Böhm, New York