■ Der Staat bestimmt, wer Deutscher ist. Das Abstammungsrecht der Bundesrepublik ist nicht nur antiquiert, es behindert auch die demokratische Integration Europas.
: Deutschsein nur mit Haut und Haaren?

Dem Staate anzugehören, verweist auf familiäre Verhältnisse, auf „Familienbande“ – mithin auf einen Begriff, dessen peinliche Doppelbedeutung uns schon von Karl Kraus klargemacht worden ist. Die „Staatsangehörigkeit“ als Rechtsinstitut hat in Deutschland eine zwar kurze, aber um so folgenreichere Karriere hinter sich.

Vor der französischen Revolution war Untertan der Reichsfürsten, wer auf ihrem Territorium wohnte. Bürgerschaft gab es nur in den reichsfreien Städten. Nur wer „Stadtbürger“ war, nahm dort am politischen Leben teil und genoß Rechtsschutz. Erstmals proklamierte die französische Revolution mit der Verfassung von 1791 das Staatsbürgerrecht als Ausdruck der „association politique“, als Inbegriff der Rechte und Verpflichtungen der auf dem Territorium der französischen Staatsnation lebenden Menschen. Von Abstammung war nicht die Rede. Kam es doch gerade darauf an, die außerhalb des Landes gegen die Revolution agierenden émigrés von der Staatsbürgerschaft auszuschliessen. In den Verfassungsdokumenten nach dem Wiener Kongress wird in den deutschen Einzelstaaten die Idee der Staatsbürgerschaft übernommen, allerdings mit deutlicher Akzentverschiebung: Das Indigenat (das Recht des „Inländers“) wird durch Abstammung von Inländern oder durch Naturalisierung erworben. An dieser Wende zur Ethnisierung, eine deutliche Reaktion auf die Citoyen-Ideen von 1789, wird sich bis zur Reichseinigung nichts Wesentliches ändern. Das preussische Gesetz von 1842, Vorbild aller weiteren Gesetzeswerke zum Staatsbürgerrecht bis heute, schreibt das „ius sanguinis“ als Normalfall fort. Es geht um Erwerb und Verlust der „Eigenschaft als preussischer Unterthan“. Diese Eigenschaft heißt dann seit den 70er Jahren Staatsangehörigkeit und hat dem heute noch gültigen Gesetz von 1913 den Namen gegeben. Wie stark obrigkeitsstaatliches Denken das Staatsangehörigkeitsrecht bestimmte, geht daraus hervor, daß es dem Bürger entzogen werden konnte. Der Nazismus hat mit seinen Aberkennungen, mit seiner Staatsangehörigkeit auf Widerruf und mit dem Ausschluß von Juden und Zigeunern von der Staatsbürgerschaft sowohl die antidemokratischen wie die „blutsorientierten“ Tendenzen des deutschen Staatsangehörigkeitsrechtes systematisiert und auf die Spitze getrieben.

Paradoxerweise hat gerade der Versuch, nach 1945 die Lehren aus diesem dunklen Kapitel zu ziehen, fast das Gegenteil einer demokratischen Reform bewirkt. Dies betrifft vor allem die Ausdehnung der Eigenschaft, Deutscher zu sein, auf Flüchtlinge und Vertriebene „deutscher Volkszugehörigkeit“, die nach dem Krieg auf deutschem Territorium Aufnahme fanden. Man muß die ursprüngliche Funktion des Artikels 116 Grundgesetz scharf von seiner späteren Anwendung trennen. Es war nach 1945 ein Gebot der Gerechtigkeit, „Volksdeutsche“ (Bürger deutscher Herkunft außerhalb des Reichsgebiets in den Grenzen von 1937), die schließlich „Manövriermasse“ der nazistischen Eroberungskriege gewesen und aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, so zu behandeln, „als ob sie deutsche Staatsangehörige wären“. Aber in Kombination mit dem Bundesvertriebenengesetz wurde daraus die jahrzehntelange Praxis entwickelt, all jene zu „Statusdeutschen“ zu machen, die sich unmittelbar vor den Vertreibungen zum „deutschen Volkstum“ bekannt hatten.

Bis heute weigert sich die Bundesregierung, die Bestimmungen des Vertriebenengesetzes über die deutschen Volkszugehörigen und ihre Nachkommen zu streichen oder wenigstens zu terminieren. In dem mit der SPD ausgehandelten Kompromißpapier wird lediglich zwischen der Sowjetunion und den anderen osteuropäischen Staaten differenziert und in gewissen Grenzen den Antragstellern die Beweislast aufgebürdet. Ansonsten will man dem Problem durch Jahreskontingente für „Spätaussiedler“ Herr werden. Damit wird an einem Begriff der Volkszugehörigkeit festgehalten, der nicht nur die Aussiedler auf eine enge ethnisch-kulturelle Identität fixiert, sondern auch die Gesellschaften anderer Staaten, wie die der Sowjetunion und Polen, mit zusätzlicher Instabilität konfrontiert.

Nach wie vor verfehlt das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht die Aufgabe, zur demokratischen Integration Europas beizutragen oder ihr wenigstens nicht im Wege zu stehen. In den Einbürgerungsrichtlinien heißt es kurz und bündig: „Die BRD ist kein Einwanderungsland. Sie strebt nicht an, die Anzahl der deutschen Staatsangehörigen gezielt durch Einbürgerung zu vermehren.“ Die Richtlinien legen hinsichtlich der demokratischen Gesinnung der Antragsteller eine Latte an, an der gemessen ein nicht geringer Teil der deutschen Staatsbürger sofort auszubürgern wäre. Die Aufenthaltsdauer „unter Deutschen“ muß nachgewiesen werden, im Ausländerwohnheim verbrachte Zeiten werden nicht angerechnet. Auch wird dem Antragsteller verwehrt, in politischen Emigrantenorganisationen mitzuarbeiten.

Wichtiger noch ist, daß die Einbürgerung in der Regel voraussetzt, daß die ursprüngliche Staatsangehörigkeit aufgegeben wird, und sei dies auch mit sehr schweren ökonomischen Nachteilen verbunden. Gerade in diesem Anspruch auf Exklusivität zeigt sich der nach wie vor obrigkeitsstaatliche Charakter des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts. Man kann nur Deutscher mit Haut und Haar sein, und man wird es desto eher, je mehr man sich dem Selbstbild des Deutschen annähert, das zwar mit dessen empirischer Existenz nichts zu tun hat, sich aber desto besser als Norm eignet.

Es sollen die Schwierigkeiten der doppelten Staatsbürgerschaft, die sich vor allem auf privatrechtlichem Feld zeigen, hier nicht verkleinert werden. Aber diese Probleme lassen sich vertraglich ebenso regeln wie die Frage, in welchem Land der Wehrdienst abgeleistet werden kann.

Durch die Neufassung des Ausländergesetzes ist die Möglichkeit leichterer Einbürgerung für Jugendliche der „zweiten“ Generation und Ausländer mit 15jähriger Aufenthaltsdauer gegeben. Das Regierungs-SPD-Kompromißpapier sieht sogar vor, den dort festgeschriebenen Regelanspruch auf Einbürgerung in einen echten Rechtsanspruch zu verwandeln. Würde dieses Projekt Gesetz, wäre tatsächlich eine Bresche in das souveräne Recht des Staates geschlagen, die Einbürgerung entweder zu gewähren oder zu versagen.

Aber selbst wenn die Hindernisse für die Realisierung des jetzigen Regelanspruchs (z.B. ein 6jähriger Schulbesuch in Deutschland) beseitigt wären: Nur ein geringer Teil der Berechtigten würde von der Möglichkeit eines Antrags Gebrauch machen. Empirische Untersuchungen aus jüngster Zeit beweisen, daß das hauptsächliche Motiv der Ablehnung darin zu suchen ist, daß die ursprüngliche Staatsangehörigkeit aufgegeben werden muß.

Die Haltung der Bundesregierung zur Frage der „Mehrstaater“ ist nicht einmal auf mittlere Sicht durchhaltbar. Schon jetzt duldet sie, daß türkische Bewerber ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit aufgeben, um sie in dem Augenblick, wo sie Deutsche sind, wieder anzunehmen. Schon jetzt versorgt sie Angehörige der deutschstämmigen polnischen Minderheit, die als „Reichsdeutsche“ angesehen werden, mit Pässen – wohl wissend, daß diese ihre polnische Staatsangehörigkeit beibehalten werden. Der demographische, soziale und ökonomische Nutzen doppelter Staatsangehörigkeit ist für die Bundesrepublik zu groß, als daß ihm ein antiquiertes Prinzip exklusiver Staatsangehörigkeit auf Dauer widerstehen könnte. Christian Semler