■ Stadtmitte
: Von Kerzen und Fackeln

Es gibt Jahre im deutschen Kalender, die hätte man besser übersprungen. Das letzte Jahr gehört dazu. Doch es gab auch vielhunderttausendfachen Hoffnungsschimmer, entzündet durch die Lichterketten in den deutschen Städten. Nun ja, könnte man sagen: in der Weihnachtszeit sind wir Deutschen allemal ein Volk von besinnlichen Pyromanen. Gerade deshalb muß es auch hier in Berlin nach Weihnachten weitergehen, damit man hierzulande nicht nur zur Besinnlichkeit, sondern auch zur Besinnung kommt.

Meine Liebste, die Filmemacherin Harriet Eder, und ich haben deshalb schon am 3. Adventstag eine Initiative von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen angestoßen, die auch die Ambivalenz des Feuersymbols bewußtmachen soll. Denn am 30.Januar 1933 zogen die SA-Trupps mit Fackeln durch das Brandenburger Tor. Damals vor 60 Jahren wurde jene Brandspur gelegt, die sich bis in die heutigen deutschen Nächte fortsetzt.

Indirekt benannte diesen Zusammenhang sogar unser spätbegnadeter Kanzler, als er von der „Tragödie in Mölln“ sprach. Denn an anderer Stelle kam bei ihm dieser Sinn für das Tragische noch einmal zum Vorschein: „Mit dem 30.Januar 1933 begann ein tragisches Kapitel in der deutschen Geschichte.“

Nun ist „tragisch“ ein festgelegter Begriff: Tragik ist bekanntlich, wenn das Schicksal unausweichlich mit aller Macht auf einen zukommt. Da kann man nun mal nichts machen, wenn einen das Schicksal mit Macht ergreift. Was also damals stattgefunden hat – so meint unser aller Geschichtslehrer offenbar – war eine Machtergreifung des Schicksals, die damals stattfand. Mächtig ergriffen war denn auch das deutsche Volk in seiner Mehrheit. Und wer sich nicht genügend ergriffen zeigte, der wurde danach bald ergriffen – von der neuen Macht. Der kam dann in Haft. Schicksalshaft, würde Dr. Helmut Kohl sagen.

Das Schicksal hat in Deutschland eben nie lange gefackelt. Der Fackelzug am 30.Januar 1933 zeigte dies an. Sorgen wir mit dafür, daß an diesem deutschen „Schicksalstag“ im Jahr 1993 in dieser Stadt ein anderes Licht aufgeht – und zwar möglichst vielen.

In dieser anbrechenden deutschen Nacht wollen wir die Berliner Mitte von Ost nach West widerstrahlen lassen von einem einleuchtenden Protest gegen alten und neuen Nationalismus und Rassismus. Um 17.30 Uhr wollen wir uns treffen auf der Strecke zwischen dem Großen Stern und dem Lustgarten. Um 18 Uhr sollen dann alle Lichter erlöschen zum Zeichen der Trauer – im An- denken an die Opfer einer deutschen Vergangenheit und einer deutschen Gegenwart.

Zu den ersten, die diesen Aufruf unterschrieben, gehören: Helmut Baumann, Volker Braun, Peter Ensikat, Hannelore Kaub, Harald Juhnke, Thomas Langhoff, Volker Ludwig, Brigitte Mira, Leonie Ossowski, Käthe Reichel, Peter Zadek. Dazu wir beide, Harriet Eder und ich. Und inzwischen sind es schon sehr viel mehr geworden.

Aber hier geht es nicht um Prominenz. Wir alle sollten es sein, die wir diesen Tag des Protestes und der Ermutigung organisieren – in Gesprächen mit Freunden und Bekannten, in unserer Nachbarschaft, an unseren Arbeitsstätten, in Schulen und Universitäten, bei Gewerkschaftstreffen und beim Gottesdienst und wo auch immer.

Schon diese Gespräche, Briefe und Diskussionen wären eine Form der öffentlichen Kundgebung. Wenn wir vorher genügend geredet haben, wäre unser Schweigen am 30.Januar kein hilfloses.

Außerdem veranstaltet zuvor ein Bündnis aus zahlreichen politischen Gruppen eine große Demonstration, die mit einer Kundgebung um 17 Uhr auf dem August-Bebel-Platz (Unter den Linden) endet. Beide Initiativen – unanhängig voneinander zustandegekommen – ergänzen sich. DIe Mahnwache der Lichterspur beginnt nach der Kundgebung.

Na denn! Bis wir uns dort (hoffentlich) wiedersehen, wünsche ich Ihnen und mir, daß das neue Jahr ein besseres werde. Ich denke, wir können gemeinsam etwas dafür tun. Martin Buchholz

Der Autor ist Kabarettist.