Duschanbe, ein mörderisches Pflaster

In der Hauptstadt Tadschikistans liegen Hunderte von Leichen in den Straßen/ Kommunistische Freischärler aus Kulab machen Treibjagd auf vermeintliche Gegner aus Badachschan  ■ Aus Duschanbe Ahmad Taheri

„Mach das Bündel auf!“ befiehlt der junge Mann mit schußbereiter Kalaschnikow in der Hand einem betagten Tadschiken, der unweit des Präsidentenpalastes an einer Wand hockt. Seiner Kleidung nach – Turban und langer Kaftan – kommt er vom Land. Der Alte zögert. Anscheinend hat er Angst, seiner Habseligkeiten beraubt zu werden. Der Milizionär, dessen rotes Armband ihn als Kommunisten ausweist, schießt dicht am Kopf des Greises vorbei. „Machst du das Zeug jetzt auf?“ Doch dem Befehl kann der Alte nicht mehr folgen. Er ist aus Angst in Ohnmacht gefallen.

So glimpflich geht es nicht immer in Duschanbe zu. Zur Zeit ist die tadschikische Metropole ein mörderisches Pflaster. Hunderte von Leichen liegen, meist verstümmelt, in den Straßen herum. Seit dem Einmarsch der kommunistischen Freischärler in der tadschikischen Hauptstadt am 9. Dezember ist die Treibjagd auf vermeintliche oder tatsächliche Gegner in vollem Gange. Im tadschikischen Bergland ist es um diese Jahreszeit gewöhnlich um einige Grade wärmer als anderswo in den mittelasiatischen Steppen. Doch der eisige Wind des Gulag bläst der Bevölkerung ins Gesicht. Genosse Stalin grüßt aus seiner Gruft die tadschikischen Genossen. Noch im Februar dieses Jahres erschien Duschanbe bunt und freundlich wie eine orientalische Stadt. Im Bazar wurde man begrüßt und zum Tee eingeladen. Heute bekommt man nicht einmal eine Antwort, wenn man nur nach einer Straße fragt.

Die Rache an den Gegnern findet meist im Schutze der Dunkelheit statt, heißt es. Im Hotel Tadschikistan, wo die ausländischen Journalisten absteigen, hört man nachts von überall her die Schüsse krachen. „In Afghanistan schießen die Mudschaheddin oft in die Luft“, sagt ein afghanischer Arzt, einst ein Anhänger Nadschibullahs und jetzt enttäuscht vom afghanischen Stammeskommunismus, „denn dort war die Munition geschenkt. Hier kostet jede Kugel ein paar hundert Rubel. Und in einer Planwirtschaft muß jeder Schuß sein Ziel erreichen.“

Im Armenhaus des einstigen Sowjetreichs mit fünfeinhalb Millionen Einwohnern steht der Bürgerkrieg nicht im Zeichen ethnischer, religiöser oder weltanschaulicher Konflikte. Bei dem unbeschreiblichen Gemetzel geht es vielmehr um einen von der kommunistischen Nomenklatura, die um ihre Privilegien bangt, geschürten wahnwitzigen Lokalchauvinismus: Wer aus der Provinz Badachschan im Südosten des Landes am Pamir stammt, gilt für die rachsüchtigen Sieger als Freiwild. Die Eroberer Duschanbes, Bauernsöhne aus dem Gebiet Kulab im Zentrum des tadschikischen Hochlands, kontrollieren auf der Straße den Personalausweis der Passanten, um der verhaßten Badachschani habhaft zu werden.

„Fünf Kulabis“, erzählt Mohabat Schah, ein alter Mann aus Badachschan, der in Duschanbe einen kleinen Laden besitzt, „kamen nachts in unser Haus. Sie erschossen meinen Sohn und meinen Bruder. Dann verlangten sie hunderttausend Rubel, um die Leichen nicht zu verstümmeln.“ „Wissen Sie“, sagt der Greis, und Tränen laufen über den weißen Bart, „die Kulabis schneiden den Toten Nase und Ohren ab.“

Der Haß auf die Badachschani kommt nicht von ungefähr. Die meisten Führer der antikommunistischen Bewegung stammen aus Badachschan. Sie stellten unter dem Staatspräsidenten Akbar Schah Iskandarow, einem Badachschani, im letzten halben Jahr die Regierung. 180.000 in Duschanbe lebende Badachschani, ein Drittel der Gesamtbevölkerung der südöstlichen Region, bildeten ihre Basis. Eine Organisation mit dem Namen „La'l-e Badachschan“, „Topas von Badachschan“, galt als Prätorianergarde des nationalistisch-islamischen Regiments.

Wie die Badachschani werden auch die Gharmi verfolgt. Das Gebiet Gharm liegt im Nordosten Duschanbes und ist eine Hochburg der „Partei der islamischen Bewegung“. Diese Bewegung war stets die Speerspitze des antikommunistischen Lagers. Sie entstand Ende der siebziger Jahre, angespornt vom Sieg der schiitischen Mullahs und noch mehr vom afghanischen Widerstand gegen die sowjetischen Besatzer. Sie ist aber fundamentalistisch nur im religiösen Sinne. Sie tritt für das Verbot von Alkohol und Schweinefleisch ein. Mit dem politischen Islam des Islamismus im Iran oder in arabischen Ländern hat sie wenig gemeinsam. Aus Gharm stammt auch der Feind Nummer eins der neuen Machthaber, Mufti Akbar Turadschan Zade. Der 44jährige hochgebildete und weltoffene Theologe spielte beim Sturz des kommunistischen Staatschefs Rahman Nabijew im Sommer dieses Jahres eine entscheidende Rolle.

Inzwischen haben die Führer der antikommunistischen Kräfte, wie der Mufti oder Schadman Jusuf, Chef der demokratischen Partei, sowie Taher Abdul Dschabar, Sprecher der nationalistischen Bewegung „Rastachiz“ („Wiedergeburt“), in den unwegsamen Bergen Badachschans Zuflucht gefunden. Badachschan ist nämlich die einzige Provinz, die noch von den kommunistischen Angriffen verschont geblieben ist.

Bis heute bilden die Badachschani die intellektuelle Elite des Landes. Dies liegt nicht zuletzt an der Bildungsbeflissenheit der ismaelitischen Sekte, der die meisten Badachschani anhängen, anders als ihre Landsleute, die Sunniten hanafitischer Richtung sind. Als der kommunistische Staatspräsident Rahman Nabijew im Sommer gestürzt wurde, kamen die Badachschani zum Zug. Neben Staatschef Iskandarow stammten eine Reihe der Minister der Koalitionsregierung aus Badachschan. Ahmad Schah Kamel, ein Badachschani, wurde Chef des für die tadschikische Politik ungemein wichtigen Rundfunk und Fernsehens.

Doch islamisiert wurde Tadschikistan, wie die russische Propaganda weismachen will, nicht unter der islamisch-nationalistischen Regierung. Keine Schänke wurde dichtgemacht, selbst gläubige Tadschiken aßen Schweinefleisch. Und niemand zwang die Frauen, ihre Gesichter unter dem Schador zu verbergen. Selbst die Gemahlin des Muftis trat in der Öffentlichkeit mit offener Haarpracht auf. Der russischen Minderheit wurde kein Haar gekrümmt, was viele Russen nicht daran hinderte, aus Angst vor einem angeblichen islamischen Fundamentalismus das Bergland zu verlassen. „Entrussifizierung“ fand nur im tadschikischen Fernsehen statt.

Doch von den GUS-Staaten im Stich gelassen, verfiel das Land nach und nach im Chaos. Bewaffnete kriminelle Banden machten die Städte unsicher. Die schweigende Mehrheit der Bevölkerung sehnte sich nach law and order und nach besserer Versorgung, unter welchem Banner auch immer. Als die kommunistischen Panzer durch die Straßen Duschanbes rollten, atmete so mancher auf.

Die gewaltsame Einnahme Duschabes durch die Kulabis entbehrt indes nicht einer gewissen Legalität. Eine Woche vor dem Sturm auf die Hauptstadt hatte das Parlament, das zumeist aus Kommunisten besteht, die Koalitionsregierung von Iskandarow abgesetzt und Imamali Rahmanow zum neuen Präsidenten des Obersten Sowjets und damit zum Staatschef gewählt. Denn neuerdings fungiert der Vorsitzende des Obersten Sowjets als Staatsoberhaupt. Der 46jährige Rahmanow, ein Agrarökonom aus Kulab, bildete ein Kabinett, dessen Minister meist aus seiner Heimatstadt stammten. Er rief seine Landsleute, also die Kulabi, zur Hilfe, um der neuen Herrschaft in Duschanbe Geltung zu verschaffen, denn auf die Milizionäre des Innenministeriums, meist badachschanischer Herkunft, war kein Verlaß mehr.

Doch der starke Mann ist heute in Tadschikistan nicht Rahmanow, sondern ein Kulabi mit Namen Sangak Safarow. Auf ihn hören jene acht- bis zehntausend Bewaffneten, die die Hauptstadt kontrollieren. Safarow, ein 63jähriger Mann mit weißem Bart, buschigen Augenbrauen und einer schlecht verheilten Narbe am Mundwinkel, war in der nachstalinistischen Ära mehrfach im Gefängnis, 23 Jahre insgesamt. „Auch im Kerker“, sagt der bullige Kommunistenführer, „war ich für die Freiheit“. Der Freiheit wegen saß er allerdings nicht im Kerker. Als Barkeeper hatte er in Kulab in den fünfziger Jahren einen Tschetschenen, der ihm Geld schuldete, mit dem Messer niedergestochen. Bestraft wurde er auch wegen Veruntreuung von Geldern der Kolchos-Bar.

„Baba“, „Vater“, wie die Kulabi den alten Hasardeur in der Partisanenkluft nennen, trat erstmals im Sommer als Verteidiger Nabijews auf die politische Bühne. Auf dem Platz der Freiheit, wo die Anhänger Nabijews versammelt waren, beschwor er den Geist Lenins und versprach, die Rote Fahne erneut auf dem Pamir wehen zu lassen. Er wurde samt seinen Gefolgsleuten verhaftet und vor den Kadi geschleppt. Nachdem er im tadschikischen Fernsehen dem Kommunismus abgeschworen und sich zum Islam bekannt hatte, ließ man die Kulabi mit ihren Waffen abziehen, ein unverzeihlicher Fehler, wie sich später herausstellen sollte. In Kulab angekommen, organisierte er den Widerstand gegen die nationalistisch-islamische Regierung. Waffen und logistische Hilfe bekam er von der russischen Division 201 unter General Asharow, der ebenfalls aus Kulab stammt.

Inzwischen hat „Steinchen“, wie Sangak auf tadschikisch heißt, seine Männer in der „Armee der Volksfront“ gesammelt. Sie sollen das Land von den „Wawtschik“, den „Wahabiten“ säubern, womit alle Anhänger der gestürzten Koalitionsregierung gemeint sind. Sangak und seine Leute werden „Jurijtschik“ genannt, was sich auf den Breschnew-Nachfolger Jurij Andropow bezieht. Angeblich hatte der einstige KGB-Chef den islamischen Mullahs die Hölle heiß gemacht.

Im Hauptquartier der Jurijtschik, in der Stadt Gurghan Tapa, 70 Kilometer südlich von Duschanbe, hängt ein Konterfei von Lenin. Seinen Blick richtet er auf ein Illustriertenbild von Madonna an der gegenüberliegenden Wand. Das kommunistisch-kapitalistische Tête-à-tête beschränkt sich nicht auf den Wandschmuck, denn Sangak Safarow, der kulabische Haudegen, genießt nicht nur die Sympathie der Russen, sondern auch der Amerikaner. Die Kulabis selbst geben es zu, daß sich der Erste Sekretär der US-Botschaft in Duschanbe, Mark William, kurz vor dem Angriff auf die Hauptstadt zwecks Beratung mit Sangak in Kulab aufgehalten hatte. Jedenfalls hatten die Amerikaner von der bevorstehenden Offensive gewußt. Rechtzeitig räumten sie die Botschaft, um sich in drei Flugzeugen in Richtung Frankfurt zu begeben. Die Angehörigen der türkischen Botschaft flogen mit, allerdings mußten sie pro Kopf 10.000 Dollar zahlen, wie es in diplomatischen Kreisen heißt. Allein die Afghaner und die Iraner hielten die Stellung. „Wir werden Iranak in der Stunde der Not nicht im Stich lassen“, sagt der iranische Botschafter Moschtahed Schabastari. „Iranak“, „Kleiniran“, nennen viele Tadschiken ihre Republik, sie sind als einziges Volk der fünf muslimischen Republiken Mittelasiens iranischer Herkunft.

Der iranische Staatspräsident Ali Akbar Haschemi Rafsandschani hat „die Brutalität im tadschikischen Bruderland“ verurteilt, doch gänzlich will man sich mit den neuen Machthabern nicht überwerfen. Die Kommunisten ihrerseits blicken, wie ihre Vorgänger, weiterhin nach Teheran. „Das Band zum iranischen Bruder“, sagt ein Sprecher von Sangak, der sich mit dem Vornamen „Mahmud“ vorstellt, als traue er dem kommunistischen Sieg noch nicht ganz, „muß immer fester werden. Beide sind wir von arischer Rasse und sprechen Farsi.“ Und der beleibte Kommunist mit der roten Krawatte fügt hinzu: „Es steht geschrieben: Im siebten Himmel sprechen die Engel persisch.“