Ein banaler Anlaß für einen Mord

Weil Kids ein Auto aus dem Rotlichtmilieu klauten, wurde Steffen T., ein unbeteiligter Hausbesetzer, von Zuhältern erschossen/ Im Besetzerkiez Leipzig-Connewitz herrscht hilflose Wut  ■ Aus Leipzig Uwe Rada

Einsam steht das schlanke Holzkreuz in klirrender Kälte. Der Wind hat alle Kerzen gelöscht, nur ein in Plastikfolie gewickeltes Buch zeugt noch von Wut und Trauer in der Connewitzer Besetzerszene. Hier, auf dem Gelände zwischen Biedermann- und Bornaischer Straße, zwischen klaffenden Baulücken, zweistöckigen Häuserstümpfen und neuzeitlicher Plattentristesse, wurde in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember der 21jährige Hausbesetzer Steffen T. erschossen. Die Häuserwände im Connewitzer Kiez sind zugesprüht: „Thümi, du lebst in uns weiter“ oder einfach nur „Warum?“.

Wenige Schritte vom Tatort entfernt erstreckt sich auf unwegsamem Hinterhofgelände das „Zoro“, ein baufälliges Fabrikgebäude. Seit es vom Sommer an als politisches Kulturzentrum genutzt wird, ist das „Zoro“ ein beliebter Treffpunkt der Connewitzer Szene. Im zweiten Stock befindet sich ein Café. „Zwei Tage vor Heiligabend platzte hier ein Typ rein“, erinnert sich Nico, „und schrie, daß in der Nachbarschaft ein Haus angegriffen wird.“ Nicos Stimme wird leise. „Ohne groß zu überlegen sind sechs Leute losgerannt, um zu schauen, was überhaupt los ist.“ Einer von ihnen war „Thümi“. Vor dem Haus, in dem vorwiegend 14- bis 17jährige „Kids“, zum Teil ausgerissene Heimkinder, wohnen, standen 15 Typen mit Baseballschlägern und Knüppeln. Als sich die Gruppe aus dem „Zoro“ näherte, seien zwei der Männer, so Nico, in einen Wagen gestiegen, auf „Thümi“ und die anderen losgerast und hätten das Feuer eröffnet. „Thümi“ wurde von vier Schüssen getroffen und starb wenige Stunden später im Krankenhaus. Ein Jugendlicher soll von den Tätern im Kofferraum verschleppt, am nächsten Tag jedoch wieder freigelassen worden sein.

Quer über die Auerbachstraße, einer für Alt-Connewitz so typischen Häuserflucht, hing bis vor kurzem noch ein Transparent: „Wir trauern um dich, Thümi“, schrieben seine MitbewohnerInnen aus dem Eckhaus auf den weißen Stoff. Der Anlaß für Thümis Tod war schrecklich banal. Einige Jugendliche aus der Nachbarschaft des „Zoro“ waren einmal mehr auf Autoklau gegangen. In die Hände fiel ihnen ausgerechnet ein Wagen aus dem Leipziger Rotlichtmilieu, den sie zu allem Überfluß auch noch vor ihrem Haus parkten. Die Zuhälter wußten, wo sie zu suchen hatten. „Die wollten wohl an der Autoknackerbande ein Exempel statuieren“, meint Marc, ein Besetzer aus der Stöckartstraße. Die hilflose Wut über die Kids klingt in seiner Stimme mit. „Thümi hatte mit der ganzen Geschichte überhaupt nichts zu tun“, regt sich auch seine Freundin über die Schlagzeilen der Leipziger Presse auf. Die hatte eine „Hinrichtung in Connewitz“ und einen „erschossenen Autodieb“ präsentiert. „Im Gegenteil, weil diese Arschlöcher den Autoklau nicht lassen können, haben sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, sondern auch noch Thümi mit reingerissen.“

Im Leipziger Süden beginnt der Besetzerkiez hinter dem Connewitzer Kreuz. Hier beherrschen nicht mehr Mietskasernen die Szenerie, sondern zwei- und dreigeschossige Vorgründerzeitbauten. Connewitz macht den Eindruck, als wären die Bürgersteige nie heruntergeklappt worden. Die meisten Kneipen schließen um 22 Uhr. Wer danach auf der Straße ist, bleibt allein mit dem weißen Qualm, der aus den Gullyschächten aufsteigt. In diese Trostlosigkeit zog es nach der Wende KünstlerInnen, Alternative und HausbesetzerInnen. Vor allem im gewachsenen Dreieck zwischen Wolfgang-Heinze-, Meusdorfer- und Bornaischer Straße entstanden Kneipen, Zentren und Initiativen. Die Stadtverwaltung stand dem Treiben zunächst wohlwollend gegenüber, vom Stadtteilverein „Connewitzer Alternative“ erhoffte man sich gar positive Impulse für die Sanierung des heruntergekommenen Viertels. Heute sind diese Sympathien so verbraucht wie die Aktivisten des Stadtteilvereins. Die Fluktuation in den Häusern ist groß, eine Kiezstruktur gibt es nicht mehr. In Connewitz hat sich Beliebigkeit und Ignoranz breitgemacht, das Klima zwischen BesetzerInnen und AnwohnerInnen wurde kälter.

„Als die Kids hierhergezogen sind“, berichtet Marc, „hat uns das nicht interessiert. Und als wir merkten, daß die nichts Besseres zu tun hatten, als Autos zu knacken und zu Schrott zu fahren, war es eigentlich schon zu spät.“ Am 27. November kam, was kommen mußte. Zwei Jugendliche wurden in der Leopoldstraße beim Randalieren verhaftet, die Polizei zog ein größeres Aufgebot zusammen, und das Gerücht über die bevorstehende Räumung besetzter Häuser tat ein übriges. Ein Polizeischuß in die Hüfte eines Jugendlichen, von der Polizeiführung hinterher als „Warnschuß“ heruntergespielt, brachte das brisante Gemisch zur Explosion. Connewitz brannte. Die Bilanz: 41 Festnahmen, zahlreiche ausgebrannte Autos, ein von der Polizei gestürmtes und demoliertes „Zoro“ sowie 24 verletzte Beamte und eine unbekannte Zahl verletzter Randalierer und Unbeteiligter, darunter auch ein Fotograf der Leipziger Volkszeitung. Die Medien griffen den „Krieg in Connewitz“, das „Schlachtfeld Leipzig“ begierig auf und forderten: „Die Schlupflöcher jetzt verschließen!“ Die DSU- Fraktion im Stadtrat beantragte einmal mehr die Räumung aller besetzten Häuser, und der Haftrichter schickte 31 der Festgenommenen in Untersuchungshaft. Neun von ihnen sitzen heute noch.

Für die BesetzerInnen steht fest, daß die Krawalle von der Polizei gewollt waren: „Das gab ihnen den Vorwand, uns alle zu kriminalisieren und die Connewitzer Frage in ihrem Sinne zu lösen“, sagt Marc, der von einer bis dahin unbekannten Brutalität während der Polizeieinsätze spricht. Nach der Randale stand die Connewitzer Szene mit dem Rücken zur Wand. Ein „Bürgerverein Connewitz“ rief laut nach Ruhe und Ordnung, und die Leipziger Volkszeitung veröffentlichte einen Leserbrief, in dem es hieß: „Es war nicht nur ein Warnschuß nötig. Man sollte gezielt und scharf schießen. Es möge sich niemand wundern, wenn die Bürger zur Selbsthilfe greifen.“

Einzig der Leipziger Stadtverwaltung war es zu verdanken, daß die Situation nicht weiter eskalierte. Die Fraktionen von SPD, PDS und Bündnis90 lehnen nach wie vor eine pauschale Kriminalisierung ab und fordern Mietverträge für die, die dazu gewillt sind. Daß es dazu bisher nicht kam, lag u.a. an der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB). „Die wollten, daß wir die Häuser mit einem Eigenanteil von mehreren tausend Mark herrichten. Danach sollten wir gehen“, ärgert sich Nico über die angebotenen „Knebelverträge“ für die sechzehn noch besetzten Häuser. Darin sei auch festgelegt gewesen, daß bei Straffälligkeit einzelner der ganze Mietvertrag gekündigt werden könne. Nach der Randale vom November ist allerdings überraschend Bewegung ins Spiel gekommen. Die Stadtverwaltung will zwischen BesetzerInnen und LWB vermitteln, und den in der Szene gern gelittenen Streetworkern des Jugendamtes gelang es in einigen Fällen, passable Verträge abzuschließen.

„Auf Besetzerseite war es vor allem Thümi“, sagt seine Freundin, „der sich in den ganzen Verhandlungskram reingehängt hat. Und jetzt ...“ „Jetzt werden wir den Kids nochmals klarmachen, daß sie den Scheiß entweder lassen oder sich verpissen“, sagt Nico etwas zu laut und bestimmt. Wie es weitergehen wird, weiß er genauso wenig wie die anderen. „Wir sind jetzt alle etwas zusammengerückt“, flüstert „Thümis“ Freundin, „aber unsere Freiräume werden wir verteidigen.“

Mittlerweile scheint Connewitz wieder vom Alltag eingeholt worden zu sein. Das Transparent in der Auerbachstraße wurde vom Wind zerfetzt. Im „Zoro“ finden wieder Konzerte statt. Vor drei Tagen kündigte der ermittelnde Oberstaatsanwalt Gerhard Greiner an, in Kürze zwei Tatverdächtige wegen des Mordes an Steffen T. zu präsentieren. Mit der Angst der BesetzerInnen, vor Gericht gegen die Mörder auszusagen, werden allerdings die Freiräume, die Thümis Freundin beschwört, ein weiteres Mal auf die Probe gestellt werden. Connewitz steht nach dem Dezember doch vor mehr als einem Scherbenhaufen.