Zwischen den Rillen
: Noch mehr Schwierigkeiten, die Wahrheit zu sagen

■ Kulturrecycling mit Mastino und Ornament & Verbrechen

Vielleicht sind Lehrer ja tatsächlich die besseren Musiker – gerade wenn sie schon ein bißchen über die 30 hinaus sind. Horst Petersen, Ex-Die Erde, konnte jedenfalls nicht nur seine umfangreiche Siebziger-Jahre- Plattensammlung, sondern auch die bizarren Kontraste eines Doppellebens zwischen Underground und Schulhof in den Mixer kippen. Als sich im Frühjahr 92 auch noch Thomas Springer, Lars Hort, Klaus Meinhardt, Thorsten Kruse und ein Mensch namens „Von“ dazugesellten, kam das Projekt Mastino heraus. Mastino ist eigentlich eine alte italienische Kampfhundrasse, bissig, wachsam, aber auch irgendwie schwabbelig und gutmütig. Der Begriff besetzt gewissermaßen ureigene Bandbelange: wenn nötig zuschnappen, die Hörer dumpf-gelassen zu einem Sprung „in die Klinge“ (Songtitel) auffordern.

Dafür wird nicht nur gesamplet, was auf dem Kompost der Kulturgeschichte vor sich hinrottet (und dabei unvorhersehbare Neuverbindungen eingeht), es wird auch zusammengeführt, was eigentlich nicht zusammengehören kann, zumindest nicht so: Dancefloor, HipHop, Rumpelbässe mit Scratcheinlagen, Grooves, die kühn am Rande des guten Geschmacks balancieren, zu deutschen Texten nicht ohne operativ-aufklärerischen Anspruch.

Auch der Ernst kehrt wieder: „Ich hab genug von der ersten Person, erst beraten, dann verkauft, dann die Isolation.“ Sind Horst Petersen und Blumfelds Jochen Distelmeyer etwa heimliche Zwillinge, bei der Geburt getrennt? Weit gefehlt. Wo Distelmeyer immer noch ganz autoreferentiell das „Ich als Mark-Stück der Währung“ formuliert (um „vielleicht ganz anders zu sein“) und darüber den Beat vergißt, rappen Mastino gedankenvoll, ja politisch korrekt den Tanzboden entlang, sammeln Indizien der Historie im Heute auf, um sie nicht nur zu inventarisieren, sondern neue semantische Verbindlichkeiten zu schaffen.

Dafür sind die Commodores gut genug, auch Jimi Hendrix oder das Cinéma Vérité. Man „bleibt nicht stumm“, man „bleibt nicht stumpf“, und es wirkt fast gar nicht peinlich, wenn die Glöckchen zur aufgeregten Rhythmusmaschine klingeln. „Angst eregiert“, behauptet eine sächselnde Polizistenstimme, Telefone tuten, und eben weil „die Angst rigiert“, weil Rostock oder Mölln keine Betriebsunfälle waren, wird das Ich nicht als Funktion der Umstände von seinen Handlungsmöglichkeiten entlastet. Im Kollegendiskurs mit den Goldenen Zitronen beharrt Petersen: „80 Millionen Hools, das glaub' ich einfach nicht.“

Petersens preisverdächtiges antikapitalistisches und antifaschistisches Reim-dich-oder-ich- freß-dich greift simpel nach Argumenten, „die Leben retten“; und bekanntlich irrte Brecht, als er von nur fünf Schwierigkeiten, die Wahrheit zu schreiben, redete. Es sind mehr. Mastino macht Kunst vielleicht wieder zur Waffe und nicht nur zur Waffel. Denn: „Die Angst regiert: Was heißt das?

Vielleicht sind Maler nicht die besseren Musiker, aber sie verdaten und vernoten ohne Zweifel „different“. Die multimedialen Brüder Robert und Ronald Lippok bilden seit 1983 den Kern von „Ornament & Verbrechen“, einem „Produktionsverhältnis auf offener Gruppenbasis“, das für die aktuelle Maxi von Erik Huhn, Bernd Jestram, Bo Kondren und der Chicagoer Malerin Sarah Marrs vervollständigt wurde. Nomen ist auch hier Omen: Ornamente als „magischer Atavismus“ (Adolf Loos), every ornament of perfection ... an envied Horror (William Blake), transformiert in Collagen aus „vielen kleinen krummen Geräuschen“, die zum Klanggerüst mittels Flöte, Keyboards, gar Glöckchen verbastelt und den Texten von Sarah Marrs („Screener in a Map“), William Blake („Chimney Sweaper“) oder Bert Papenfuß-Gorek („Umfug“) unterlegt werden (früher hielten auch Texte der Beatniks, etwa von Bob Kaufman, her).

Die motivischen Vorlieben gehen auf die manieristische und kabbalistische Wortkombinatorik der Texte zurück. Als Ergebnis aus den Interferenzen der verschiedenen O&V-Interessen entsteht eine Art Wort-Musik-Maschine, die stilistisch zwischen ingenieurmäßigem Bauhaus und unwägbarer Romantik angesiedelt ist. Dabei versteigt sich Ornament & Verbrechen nicht etwa zu Konzeptmusik im Zeitalter der Konzeptlosigkeit, sondern spielt auf Festen auch schon mal House Music. Die Backlist nennt nicht nur „On eyes“ (Hidden Records, 1990), sondern auch Hörspiele, eine „Experimentalfilmmusik“ über Industrietechnologien in Ost und West für Channel 4, Theatermusiken (am Deutschen Theater Berlin zum Beispiel – zu Brendan Behans „Die Geisel“) sowie Stücke für Emma Carlsons Dance Company.

Gesamplet wird, „was dem Experiment mit der Kommunikation“ dienlich ist – von tibetanischer Sakralmusik auf „Refrigadorable“ bis hin zu chilenischer Folklore. Am Anfang stand mitnichten das Wort, sondern die Gier, sich ohne Vorkenntnisse musikalisch zu bewegen, in dubiosen Tape-Mixings oder indem Legobausteine akustisch umgeschichtet wurden.

Ronald Lippok verfertigte neben Marionetten einst auch Musikautomaten. Derzeit simuliert die Musik von Ornament & Verbrechen folgerichtig Realität, ohne deren Künstlichkeit zu verbergen – über Klanggeneratoren etwa. Die Musikmaschine verschiebt für Situationen Klangrudimente, ebenso konstruktivistisch wie affektiv. Was dabei rauskommt, sei natürlich keine Avantgarde – „das hörst du ja selbst“, so die Lippoks fröhlich im Gespräch. „Wir sind eigentlich die erste New Wave Revival Band!“

Aber eben auch „die blässe vorm sturm“ mit dem „lift der erhabenheit“, wie es in den Texten so schön heißt. So etwas wie postpsychedelische Kosmonautenmusik. Die Waffe utopisch als Waffel getarnt: „Die schlauesten unter den Kriegern aber malten nicht das eigene Totem auf ihre Schilde, sondern das ihrer Feinde, diese zwingend, auf sich selbst einzuschlagen.“ Anke Westphal

Mastino: „In die Klinge“/„Cinever, Angst erigiert“. Maxis, beide bei L'Age D'Or.

Ornament & Verbrechen: „Tunes“. Aus lauter Liebe/EFA.