Die Letzten werden die Ersten sein... (Theo 1, 1-3)

■ Schon heute reicht die Sozialhilfe kaum für eine menschenwürdige Lebensführung. Sparen will die Regierung dennoch zuerst bei den Ärmsten

Die Letzten werden die Ersten sein... (Theo 1, 1-3)

... bei denen gespart wird. Gegen die Pläne von Sparminister Theo Waigel (CSU), die Sozialhilfe, die Arbeitslosenhilfe und das Arbeitslosengeld pauschal um drei Prozent zu senken, haben gestern mehrere Verbände energischen Protest eingelegt. Der Vorsitzende des Reichsbundes der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner, Walter Franke, erklärte, das Existenzminimum dürfe nicht gesenkt werden. Die Regelsätze der Sozialhilfe reichten schon bisher zu einer menschenwürdigen Lebensführung kaum aus. Wenn Arbeitnehmer weniger verdienten, als die Sozialhilfeleistungen ausmachten, spreche das „gegen die gezahlten Löhne, nicht aber gegen die Sozialhilfe“.

Der Präsident des Sozialverbandes Vdk, Walter Hirrlinger, nannte die Erklärung von Bundeskanzler Kohl, daß im sozialen Bereich „Wildwuchs“ beschnitten werden müsse, „völlig undifferenziert“.

Der „Wildwuchs“ bei den Sozialleistungen, den der Kanzler ausgemacht haben will, besteht in einem mageren Sozialhilfesatz von durchschittlich 501 Mark. In Westberlin werden 483 Mark, im Ostteil der Stadt 468 Mark ausgezahlt. Eine alleinstehende Frau mit einem dreijährigen Kind erhält monatlich mit Wohn- und Kindergeld 767,32 Mark. Davon gehen 113 Mark an die Krankenkasse, 207 Mark an den Vermieter, 200 Mark an den Kinderladen. Für Gas und Strom gehen noch mal 78 Mark drauf. Bleiben genau 114 Mark übrig, um sich und ihren Sohn einen Monat lang zu ernähren. Wenn man die drei Prozent vorgeschlagene Kürzung, also 14 Mark, abzieht, bleiben gerade noch 100 Mark übrig. Das Kunststück, mit einem solchen Betrag zu überleben, sollte der Kanzler einmal vormachen. Vermutlich hätte auch der Sohn Anspruch auf Sozialhilfe, da der Vater keinen Unterhalt bezahlt, doch aus Unwissenheit hat diese Mutter gar nicht alle Ansprüche geltend gemacht.

500 Millionen Mark weniger seit Sommer 1990

Schon im Sommer 1990 hat die Bonner Regierung das Sozialhilferecht zu Lasten der Sozialhilfeempfänger korrigiert. Die Hilfe zum Lebensunterhalt bemißt sich nicht mehr nach dem Wert eines fiktiven Warenkorbes, sondern orientiert sich an den „Verbrauchsgewohnheiten der unteren Lohngruppen“. Nach Berechnungen von Ernst-Ulrich Huster von der Bochumer Fachhochschule gibt der Staat den Armen dank der neuen Berechnungen 500 Millionen Mark weniger.

Etwa 60 Prozent der Sozialhilfeempfänger im Osten und gut ein Drittel der Sozialhilfeempfänger im Westen müssen den Gang zum Sozialamt antreten, weil sie arbeitslos sind. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist von 1980 bis 1988 um 60 Prozent auf 3,4 Millionen gestiegen. Inzwischen müssen sich nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes jährlich 4,2 Millionen Menschen an das Sozialamt wenden.

Hinzu kommen nach einer Schätzung des DGB etwa eine Million Menschen, die aus Scham oder Unwissenheit auf die ihnen zustehenden Sozialleistungen verzichten. Die Kosten für die Sozialhilfe verzehnfachten sich von 2,9 Milliarden im Jahr 1969 auf 31,6 Milliarden 1990. In steigendem Maße tritt die Sozialhilfe als existentielle Mindestsicherung für Arbeitslose ein. Doch auch, wer noch Arbeitslosengeld oder -hilfe bezieht, liegt nur wenig über der Armutsgrenze, die in Deutschland derzeit bei 530 Mark gezogen wird. In Ostdeutschland müssen die BezieherInnen von Arbeitslosengeld durchschnittlich mit 950 Mark auskommen. Die drei Prozent Kürzung würden hier mit 28,50 Mark zu Buche schlagen. Die Arbeitslosenhilfe betrug im September 1992 durchschnittlich 746,21 Mark. Die Kürzung würde hier 22,20 Mark ausmachen.

Das ist ein Betrag, der auf den ersten Blick geringfügig erscheint, doch diejenigen, die ohnehin schon kaum über die Runden kommen, trifft diese Kürzung hart. Nach einer Umfrage des Berliner Meinungsforschungsinstituts Info kamen im Januar 1992 sechs Prozent aller ostdeutschen Arbeitslosen mit ihren regelmäßigen Zahlungen von Raten, Krediten und Mieten nicht mehr nach. Fast 60 Prozent der Arbeitslosen brauchen ihre Ersparnisse auf, um über die Runden zu kommen.

Als „beschämend“ bezeichnete der Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, Manfred Ragati, die bisher bekannt gewordenen Kürzungspläne. Wenn diese Regierung nicht endlich mehr soziale Hilfen, mehr für Arbeitslose, Kinder, Jugendliche und Familien in den unteren Einkommensschichten auf den Weg bringe, werde sie für aus sozialer Bedrängnis entstehende Auseinandersetzungen erhebliche Mitschuld tragen. Dorothee Winden