Das Gegenteil von gemein

Der Pariser „Mois de la photo“ provoziert mit Warhol die rechte Kunstkritik  ■ Von Brigitte Werneburg

Zwei Dinge bekommen die verblüfften bilder- wie bildungshungrigen BesucherInnen beim Eintritt zur Ausstellung verpaßt: einen Waschzettel „Expositions photo mode d'emploi“ und ein Paar weiße Baumwollhandschuhe. Da schauen Besucher und Besucherin regelmäßig etwas betreten drein, was das nun heißen soll? Die Hände schützen, meint doch die die Hände benützen? Bei einer Fotoausstellung?

Aber in der Tat, es geht handgreiflich zu bei der visuellen Annäherung an die große Stadt Paris in den „Portraits d'une capitale“. Das Paradox ist schnell geklärt: drei Ausstellungsräume im Musée Carnavalet sind mit stählernen Rohrgestängen ausgestemmt; zwischen den parallel laufenden horizontalen Gestängen entlang den Wänden lassen sich die vertikal, dicht an dicht eingehängten Plexiglashüllen, in denen die Fotografien stecken, umblättern wie die Seiten eines Buches. Die Handschuhe sollen das Plexiglas vor Fingerabdrücken schützen. Die Leute sehen schon ein bißchen komisch aus mit ihren weißen Pfoten. Manche benutzen die Handschuhe wie Topflappen und halten die Plexiglashülle zögernd an der äußersten Ecke. Andere versuchen, mit den Baumwolldingern zu entwischen, ohne sie am Ende der Raumflucht abzugeben, denn so ein Paar Handschuhe kann man ja immer gebrauchen. Die Ausstellung ist heftig besucht, die Ellenbogen werden ebenso eingesetzt wie die Handschuhe, um den Bilderbogen aufzublättern: Paris und die Pariser im „Mois de la photo“ – wer fotografiert diese Szene eigentlich?

Ein Hauptthema des sehr langen Monats, der von November vergangenen Jahres bis Ende Januar dauert, ist „Sammlungen und Sammlern“ zugedacht, was dem Städtischen Museum, das in einem wunderschönen Stadtschloß im Marais untergebracht ist, erstmals Gelegenheit, konkret: die Finanzen, gibt, dem Publikum Einblick in seine enorme Sammlung an Paris-Fotografien zu gewähren. 2.000 Fotografien sind ausgestellt, da braucht man schon eine Gebrauchsanweisung, um sich durchzufinden. Die Bilderflut ist allein thematisch gegliedert, allerdings nicht ganz so reduziert, wie zu Beginn der Sammlungsgeschichte 1866 verfahren wurde. Damals sortierte man nach genau vier Kategorien, Topographie, Geschichte, Sitten und Portraits, heute geht es um den Glanz der Hauptstadt, ihre Ästhetik des Bizarren, ihren Prunk und ihre Schattenseiten, ihre Ruinen, die Koexistenz von Pomp und urbanem Alltag und schließlich um die Archäologie der Moderne. Es gibt keine Chronologie, keine Autorensortierung: anonyme Panorama- und Stereoskopie-Aufnahmen aus dem 19. Jahrhundert befinden sich zwischen experimentellen Eiffelturmaufnahmen von Ilan Wolff von 1988. Beim „Stöbern im Archiv“ ist man also allein auf den Kamerablick verwiesen, Fotografien im Wert von 100.000 Mark hängen genauso bedeutend-unbedeutend neben solchen, die nur einen Bruchteil wert sind; ob die Fotografien als Dokument oder als Kunst gelesen werden, bleibt allein dem Betrachter überlassen. Die Urinoirs, die Charles Marville von 1865 bis 1875 in extenso fotografierte, werden derart unprätentiös gezeigt. Eugène Atgets Fotografien von Pferdewagen allerdings bekommen einen eigenen Ausstellungsraum. Sein von Amerika aus, dem Metropolitan Museum und dem MoMA in den achtziger Jahren in Szene gesetzter Ruhm als einzigartiger Foto-Künstler beeinflußt auch die Pariser Hängung.

Die Ausstellung, die die anonyme Fotografie und die Frage, was Fotografie kann, was sie ist, ins Blickzentrum stellt, unterscheidet sich damit wesentlich vom Rest des Fotomonats. Dort ist Prominenz angesagt, Prominenz von Sammlern, von Fotografen und Fotografierten. Das Gesicht von Andy Warhol-Superstar in Polaroid- Selbstporträts, in Porträts von Ugo Mulas und Gérad Malanga fungiert als Aufhänger der Argumentation gegen die seit Monaten andauernde Denunziation der Gegenwartskunst als null und nichtig durch die französische Rechte. Diese hat Warhol als ihren Hauptfeind entdeckt, und mit ihm Lichtenstein, Rauschenberg und Rosenquist, die Heiligen der Pop art, die Kunst und mass culture nicht nur in Verbindung brachten und damit, nach Meinung der Rechten, die Kunst auf den Hund, weil High und Low sich definitiv ausschließen, sondern die es auch noch wagten, in schierer Ironie darauf hinzuweisen, daß ein Bild ein Bild ein Bild ist. Kunst hin, Werbung her. Rien devant ni derrière (nichts davor, nichts dahinter), nennt auf der Rechten Jean-Philippe Domecq dieses schändliche Tun, das einer konservativen Kunstauffassung, der jede soziale oder politisch- künstlerische Aussage verdächtig und verhaßt ist, zu nahe steht, um nicht eine Demontage genau dieser Kunstauffassung zu sein, für die ein Bild ein Bild ein besonderes Bild, ein Meisterwerk ist.

Mit Warhols Polaroid-Selbstporträts, seinen Totenmasken als Lebender, zu provozieren mag Sinn machen, für die „moralische Fotoreportage“ von Ugo Mulas über die Factory in den sechziger Jahren und für die Porträts von Malanga scheint das jedoch eher fraglich. Diese Ausstellungen passen zu gut in die Fotogalerien berühmter Gesichter, mit denen der „Mois de la photo“ ansonsten aufwartet (Marilyn, Marlene, Man Ray etc.). Seit 1980 findet diese von „Paris Audiovisuel“, einer Kulturabteilung des Bürgermeisters Jacques Chirac, organisierte PR-Aktion für Fotografie jährlich statt, und wie das diesjährige Programm deutlich zeigt, kommt inzwischen nicht mehr viel dabei raus. Für den Direktor von Paris Audiovisuel Jean-Luc Monterosso allerdings das Maison européenne de la photographie, das 1994 in einem neu restaurierten Stadtschloß des Marais eröffnet wird. Auf 3.000 Quadratmetern wird die – nach der Bibliothéque nationale – größte Fotosammlung Frankreichs untergebracht sein. Man möchte hoffen, daß sich dann, dank ganzjähriger Ausstellungs- und Arbeitsmöglichkeiten, der Fotomonat erübrigt, daß die Galerien sich aufgrund der Konkurrenz gezwungen sehen, sich mehr nach jungen interessanten Fotografen umzuschauen – nicht nur zum Stichdatum November. Zu diesen jungen Fotografen gehört Anne Testut, die nach 1989 jetzt die Fortsetzung ihres Familienalbums präsentiert.

Die gemeinste Art der Fotografie ist die, die sich im Familienalbum findet. Gemein durchaus doppeldeutig verstanden: es ist die ubiquitäre Form des fotografischen Bildes, überall und allenthalben anzutreffen, eine sentimentale Dokumentation dessen, was so überaus gewöhnlich ist, eben des Familienlebens. Stereotypien stellen sich zwangsläufig ein, die Knipserbildchen sind scheußlich, entlarvend – und singulär, also in all ihrer ordinären Erscheinung das ganze Gegenteil von gemein. Wie nähert man sich als Fotografin und als Tochter diesem Thema, das nichts als Untiefen aufweist?

Anne Testut entstammt einer Familie der französischen Großbourgeoisie, einer Pariser Familie, die, als Anne Testut aufwuchs, allerdings schon im finanziellen Abstieg begriffen war. „Le Musée Grevin 1989“ stellt die Familie aus und ebenso die Art und Weise ihrer fotografischen Bemächtigung. Es gibt keine Schnappschüsse, sondern nur inszenierte Bilder, arrangiert, ausgeleuchtet, hergerichtet, und doch sind sie als Familienfotos zu erkennen; ausreichend, die zynische Energie zu verdeutlichen, die sie zu aufklärerischen Kunststücken machen.

Die neuesten Fotografien zeigen Porträts ihrer Eltern, der Brüder, ein Bild der verstorbenen Schwester und ein Selbstporträt. Sie sind in ihrer alltäglichen Umgebung fotografiert, und wenngleich diese nur aus einem Stuhl in einem Raum der jeweiligen Wohnung besteht, zeigen die Bilder genug, um sagen zu können, mit dem Pomp vergangener Tage ist es vorbei. Der Fortbestand der Familie liegt im Kinderreichtum der Söhne, die beiden Töchter haben keine. Mit diesen Nichten und Neffen und ihren Eltern hat Anne Testut in ihrer früheren Arbeit, die in einzelnen Fotografien ebenfalls zur Ausstellung kommt, eine fast psychoanalytische Aufarbeitung ihres Aufwachsens nachgestellt. Ihre Fotografien zeigen jene Fotos, die in Familien nie aufgenommen werden, die aber die Bilder sind, die sich unscharf und überdeutlich zugleich ins Gedächtnis einbrennen. Nicht bunte familiäre Träume (vom sonnigen Urlaub mit Mama vor dem schiefen Turm in Pisa), sondern familiäre Traumata sind hier, überscharf und schwarzweiß in dramatischem Filmlicht in Szene gesetzt. Die Stimmung ist die von Jean Renoirs „La règle du jeu“, und eine Spielregel geht so, daß zuerst die Hunde, dann die Söhne und zuletzt die Töchter der Aufmerksamkeit des Vaters würdig sind. Eine andere, aus Alain Resnais' „L'Année dernière à Marienbad“ übernommen, heißt, daß diejenige von zwei Personen, die aus einer Anzahl von Messern das letzte nehmen muß, verloren hat. In der Fotofolge „Jeu“ ist der Vater der Verlierer, aber aus anderen Bildern wird deutlich, daß es außer ihm noch weitere Verlierer gibt; es gibt sie, weil er der Verlierer ist. „Le repas“ und „Le renvoi“ erzählen die Geschichte der Autorin, die als Kind mit einem Hausangestellten in vertrauterem Verhältnis als mit ihren Eltern stand; als die Familie das bemerkt, muß der Diener das Haus verlassen. In „Les enfants nus“ deckt die Mutter dem Vater die auf dem Eßtisch verknäuelten nackten Kinder auf; der Kronos-Vater, der die Kinder frißt, die Söhne bezahlt er wenigstens dafür, steckt ihnen Geld zu, die Töchter gehen leer aus.

Der Schwarzweißmalerei folgen jetzt Farbfotografien, weißer Voile setzt die Protagonisten auf ihren Stühlen in harmonisierendes Licht, allerdings: die Serie der Köpfe der Nichten und Neffen, der dritten Generation sind wiederum Schwarzweiß-Fotografien; das Familienleben, die Schärfe der Konflikte pflanzt sich fort.

„Portraits d'une capitale“, Musée Carnavalet, 29 rue Sevigne, bis Ende Januar

Anne Testut: „Descendence suite et fin“, Galerie Gutharc Ballin, 47 rue de Lappe, bis 9.1.