In Frankreich erfrieren die Obdachlosen

500.000 Menschen leben auf der Straße/ Sorbonne und Metrostation vorübergehend für Berber geöffnet/ Langzeitarbeitslosigkeit und Spekulation treiben Arme auf die Straße  ■ Aus Paris Bettina Kaps

Der 46jährige Mann lag zusammengekrümmt in einem Hauseingang im Zentrum des ostfranzösischen Städtchens Nantua. Er hatte vergebens unter dem Treppenaufgang Schutz vor der Kälte gesucht. Vor einem Geschäft in der Mittelmeerstadt Toulon erfror ein 64jähriger, und auch im Pariser Vorort Créteil wurde ein Mensch tot auf der Straße aufgelesen: Bereits neun Obdachlose sind in Frankreich elend an den Folgen des Winters gestorben. Viele Hilfsorganisationen geben den Behörden die Schuld: „Es ist eine Schande, daß in Frankreich Menschen erfrieren“, sagt Gille Brucker von Médécins du Monde. Die Verantwortlichen würden hilflos improvisieren, wenn vorhersehbare Ereignisse wie Winter und Kälte eintreten.

Eine von der Regierung in Auftrag gegebene Studie schätzt die Zahl der Obdachlosen auf 200.000 bis 400.000. Die Hilfsorganisationen sind jedoch überzeugt, daß bis zu einer halben Million Menschen kein Zuhause haben. Im Winter zieht es einen Großteil von ihnen in die Hauptstadt, weil es dort mehr Heime, Suppenküchen und Notunterkünfte wie die Metroschächte gibt als in der Provinz.

Auch hier gehen die Zahlen auseinander: Während Stadt und Sozialministerium erklären, daß es in Paris maximal 5.000 Menschen „ohne festen Wohnsitz“ und ebenso viele Übernachtungsplätze gebe, haben die Leiter der Übernachtungsheime ganz andere Erfahrungen: Bei einem Gespräch im Rathaus sprachen sie am Montag von 20.000 bis 25.000 Obdachlosen, ihre Zahl werde zudem immer größer. Fast alle Unterkünfte sind dieser Tage restlos überfüllt: Ein katholisches Heim mit 730 Betten muß täglich zig Menschen die Tür weisen.

Da die Medien seit Weihnachten über das Elend der Obdachlosen berichten, ließ Erziehungsminister Jack Lang am Sonntag abend publikumswirksam in der Nachrichtensendung einen Schnellschuß los: Ohne Absprache mit dem zuständigen Sozialminister Teulade — der unbeirrt daran festhält, daß es im Großraum Paris noch 400 freie Übernachtungsplätze gibt — forderte er die Schuldirektoren auf, „außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen, um Obdachlose nachts aufzunehmen“. Schon aus hygienischen Gründen wurde dieser Vorschlag sogleich still und leise begraben. Nur die Pariser Universität Sorbonne öffnete den Wärmesuchenden inzwischen ihre Eingangshalle. Auch die Metrogesellschaft RATP schätzt die Not größer ein als der Sozialminister: Sie hielt es für nötig, neben den Gleisen der Station Saint-Martin 103 Betten für Obdachlose aufzustellen. Sobald die Kältewelle vorbei ist, will sie die Clochards allerdings wieder vertreiben, damit sie den Tag-Nacht- Rhythmus nicht verlieren, so die fürsorgliche Begründung.

In den 80er Jahren, also unter sozialistischer Herrschaft, hat sich die Zusammensetzung der Obdachlosen stark geändert: Immer häufiger zwingen die Folgen der Arbeitslosigkeit die Menschen auf die Straße. Unter den drei Millionen Arbeitslosen in Frankreich steigt die Zahl der Langzeitarbeitslosen. Nach der letzten Erhebung vom September 1991 gab es in Frankreich 542.000 Menschen, die 30 Monate ohne Job waren. Nach dieser Frist rutschen sie ab in die Klasse der Sozialhilfeempfänger, die nur noch das „Mindesteinkommen zur Eingliederung“ (RMI) von umgerechnet 600 Mark im Monat erhalten.

Die Spekulation auf dem Wohnungsmarkt treibt die sozial Schwachen ebenfalls in die Armut. Weder Regierungen noch Bürgermeister haben den Bau von Sozialwohnungen gefördert. Die Betreiber der bestehenden Sozialwohnungen ziehen regulär zahlende Mieter vor. Häufig verlangen sie Einkommensnachweise, die die Miete um ein Mehrfaches übersteigen. Als Zeichen, daß er die Wohnungsnot erkannt hat, schuf Präsident François Mitterrand zu Weihnachten ein „Hohes Komitee für die Unterbringung benachteiligter Menschen“. Dessen Aufgabe: Ansichten abgeben und Berichte schreiben.