■ Bräutigam geht, Boß kommt, die Groteske bleibt
: Einstellung statt Symptomabwehr!

Hansgeorg Bräutigam ist weg, die Groteske bleibt. Während die politischen und juristischen Erklärungsversuche zum Honecker-Prozeß offensichtlich kaum mehr ausreichen, das Moabiter Spektakel zu fassen, lassen sich psychoanalytische Deutungsmuster nur noch schwer abweisen. Je entschlossener, so scheint es, die politische Dimension und der Inszenierungscharakter des Prozesses gegen die früheren DDR- Entscheidungsträger abgestritten und verdrängt werden, desto unaufhaltsamer brechen sich die Symptome Bahn; die verschleiern zwar zugleich, was sie offenlegen; doch als Indikator für die Anstrengung, der es bedarf, über dem Abnormen die Fassade der Normalität aufrechtzuerhalten, sind sie allemal gut.

Ähnlich wie beim Neurotiker haben auch die Symptome im Honecker-Prozeß eher abstrusen Charakter: einem Schöffen beispielsweise geht einfach nicht aus dem Kopf, warum das zähe Verfahren nicht wenigstens dafür gut sein könnte, die Autogrammsammlung mit einem Signet des Hauptangeklagten zu bereichern. Der Vorsitzende Richter, der den Schwerkranken 80jährigen in Haft hält, kann da mitfühlen und nimmt sich der Sache – unter den Augen der Prozeßbeteiligten – an. Der Nebenklagevertreter, der das Anliegen seiner Mandanten wie das Verfahren selbst mit seinen perfiden Possen längst auf Null gebracht hat, sieht zwar seine Zweifel bezüglich der Identität des Hauptangeklagten noch immer nicht ausgeräumt; doch zu einer medizinischen Ferndiagnose – „bei Herrn Honecker treibt ein Fuchsbandwurm sein Unwesen“ – sieht er sich allemal in der Lage. Derweil wächst, unter reger Anteilnahme der Boulevardpresse, Honeckers Krebs. Noch zwei Zentimeter bis zur Leberpforte... Doch die Schwere des Tatvorwurfs hält, so will uns die Staatsanwaltschaft glauben machen, den normalsten aller normalen Angeklagten weiter in Haft.

Kein Zweifel, in Moabit geht ein ausgeflipptes Verfahren vonstatten. Noch der Abgang Bräutigams paßt ins Bild. Er kippt – nicht über sein vorangegangenes Interview, die Unerbittlichkeit der Haftentscheidung, die Zuständigkeitsmanipulation oder seine öffentlich bekundete Begeisterung, dem einstigen Staatschef den Prozeß machen zu dürfen –, er kippt als Handlanger bei der Autogrammjagd.

Kein Zweifel, so toll wie Bräutigam wird es der neue Vorsitzende Hans Boß kaum treiben (lassen). Die Chance, Ruhe in das Verfahren zu bringen, die sich ihm mit der spektakulären Zäsur des Richterwechsels bietet, wird er zu nutzen versuchen. Doch an der Einsicht, daß sich die bundesdeutsche Politik und Justiz mit dem Verfahren gegen Erich Honecker überhoben hat, daß der Prozeß gegen den Schwerkranken nicht nach normalisiertem Fortgang, sondern nach einem schnellen Ende verlangt, wird er schwerlich vorbeikommen. Andernfalls wird sich Boß, wie sein Vorgänger, an der Symptomabwehr verschleißen, und die Befürchtungen selbst der Staatsanwaltschaft um das Ansehen der bundesdeutschen Justiz werden weiter wachsen. Daß Boß die überfällige Einstellungsentscheidung am Ende nicht mit der Überforderung des Strafprozesses bei der Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern mit allzu späten Erwägungen von Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit begründen wird, sei ihm unbenommen. Hauptsache er trifft sie – schnell. Matthias Geis