"Wirtschaft steht vor Katastrophe"

■ Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung stellt tiefschwarze Prognose für 1993 vor / Für die Forscher trägt die Bundesbank mit ihrer Hochzinspolitik die Hauptschuld / Gewerkschaften in Vorleistung

Berlin (AP/taz) – Die deutsche Wirtschaft steht nach Auffassung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vor einer Katastrophe. Heiner Flassbeck, Leiter der Konjunkturforschung, sieht die westdeutsche Wirtschaft 1993 in eine Rezession schlingern, die verheerende Wirkungen für Ostdeutschland haben wird. „Die Bundesbank trägt mit ihrer Hochzinspolitik die Hauptverantwortung“, beschuldigte Flassbeck gestern die Notenbank.

Für dieses Jahr sagen die DIW- Forscher einen Rückgang des Bruttosozialprodukts von einem Prozent voraus. Der Preisauftrieb werde sich verlangsamen und – um die Mehrwertsteuererhöhung bereinigt – etwa drei Prozent betragen. Die Investitionen sind nach dieser Prognose um sechs Prozent rückläufig. Die Zahl der Arbeitslosen werde um mehr als 300.000 auf 2,1 Millionen steigen. Voraussetzung sei, daß „ein Zinssenkungsprozeß in Gang kommt“. Wenn die Bundesbank heute die Zinsen nicht senken wird, drohe eine Konjunkturkatastrophe.

Die Bundesbanker zeigten sich von der Kritik wenig beeindruckt. Trotz sinkender Aufträge für die deutsche Industrie sowie steigender Kurzarbeit im Automobil- und Maschinenbau wird der Zentralbankrat auf seiner heutigen Sitzung wohl nicht die Leitzinsen senken. Bundesbankpräsident Helmut Schlesinger sagte gestern in einem Vortrag vor dem norwegischen Industriellenverband, daß er der Bekämpfung der Inflation den absoluten Vorrang einräume.

Während die DIW-Forscher derzeit keine Inflationsgefahr sehen, will Schlesinger offenbar die amtliche Inflationsrate für Januar abwarten, die allein schon wegen der Anhebung der Mehrwertsteuer um voraussichtlich 0,5 Prozentpunkte steigen wird.

Nach Auffassung des DIW liegt die konjunkturelle Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Geld- und Lohnpolitik. Nach den überhöhten Lohnabschlüssen 1992 hätten die Gewerkschaften für dieses Jahr auf die Abschwächung in der Wirtschaft und die steigende Arbeitslosigkeit reagiert und ihre Lohnforderungen deutlich zurückgeschraubt. „Der Vorleistung der Lohnpolitik ist die Geldpolitik nicht gefolgt“, sagte Flassbeck. Die Bundesbank halte stur an ihrer Geldmengenpolitik fest und reagiere nicht auf die Rezession, die eine antizyklische Zinspolitik notwendig mache.

Die ostdeutsche Wirtschaft liegt nach Darstellung des DIW weiter am Boden. Die Berliner Wirtschaftsforscher warnten jedoch vor einer „Bestandsgarantie für industrielle Kerne“. Zum einen werde jeder Politiker darauf dringen, Betriebe in seinem Wahlkreis als industrielle Kerne zu erhalten. Zum anderen laufe solch ein staatlicher Eingriff den Marktkräften zuwider. Das DIW plädierte für eine Pauschalsubvention für alle Betriebe. Die Entscheidung über das Überleben müsse dem Markt überlassen werden. „Und wer es nach sechs Jahren nicht geschafft hat, ist weg vom Markt“, sagte DIW-Präsident Lutz Hoffmann.

Den öffentlichen Haushalten bleibt nach Auffassung des DIW keine andere Wahl, als weiterhin Schulden zu machen. Allerdings schränke vor allem die ständig zunehmende Zinslast den Handlungsspielraum ein. Um finanzpolitischen Handlungsspielraum zurückzugewinnen seien Steuererhöhungen unumgänglich. Als „sparen zur falschen Zeit und an der falschen Stelle“ bezeichnete das DIW die Kürzungen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Ostdeutschland. Gerade in einer Rezession müsse der Staat aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben. „Die bisherige Praxis, Sozialversicherungsträger quasi als Verschiebebahnhöfe zu benutzen“, müsse geändert werden. Zur Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutschland sollte eine allgemeine Sonderabgabe von zehn Prozent der Einkommenssteuerschuld erhoben werden.