Kinkel verspricht geistige Führung

Mehr konservative als liberale Töne vom designierten FDP-Chef/ Kinkel plädiert gegen den Mißbrauch sozialer Leistungen, aber auch gegen den Lauschangriff  ■ Aus Stuttgart Hans-Martin Tillack

Stuttgart (taz) – Der Mann beugt sich über das Redepult, den ausgestreckten Zeigefinger voraus, als wolle er die Zuhörer handgreiflich treffen: „Die Menschen wollen gefordert werden“, ruft er ihnen zu, „und sie wollen geführt werden!“

Es ist nicht das einzige Mal an diesem Vormittag im Stuttgarter Staatstheater, daß Klaus Kinkel von Führung spricht. Gleich zu Beginn seiner Rede beim Dreikönigstreffen der FDP mahnt der Außenminister „politische, geistige und moralische Führung“ an, später fordert er „Besinnung auf wirkliche Werte“, immer wieder spricht er vom Verlangen der Bürger nach Lebenssinn und Orientierung, ohne die Freiheit „sehr rasch zur Gefahr“ werden könne.

Mögen das auch eher konservative als liberale Töne sein – dieses Stuttgarter Auditorium erwartet von Kinkel wirklich nichts anderes als Führung. Und Kinkel spricht, im neobarocken Rund des Opernhauses, die ersehnten Worte. Er sei bereit, auf dem Parteitag in Münster für den FDP-Vorsitz zu kandidieren, erklärt er. Da brandet minutenlanger Beifall auf, übrigens das einzige Mal während Kinkels mehr als halbstündiger Rede. Ziehvater Genscher lobt den Senkrechtstarter, der nach nur zweijähriger Parteimitgliedschaft schon Vorsitzender wird, als „personifizierte vertrauensbildende Maßnahme“. Mit Kinkel habe man einen „guten Kandidaten“, erklärt auch er scheidende Parteichef Otto Graf Lambsdorff, der den Unterschied zwischen gut und sehr gut sicherlich kennt. Keinesfalls gehe er nun von Bord, korrigiert Lambsdorff eine Formulierung seines Nachfolgers: „Ich gehe von der Kommandobrücke und bleibe an Bord.“

Das muß man wohl als kleine Drohung an die Adresse von Kinkel verstehen, der trotz seiner 56 Jahre noch ein wahrer Jungliberaler ist. Erst vor knapp zwei Jahren trat er der FDP bei, und deshalb muß er in Stuttgart auch so etwas wie ein liberales Glaubensbekenntnis ablegen. Kinkel bemüht sich: „Wir sind Liberale und keine Koalitionsarithmetiker“, deklamiert er. „Die FDP muß auch mal nein sagen können, wenn es wie beim Lauschangriff ans Eingemachte geht.“

Erneut beteuert er, daß er sich „in Menschenrechtsfragen nicht von irgend jemandem überholen lassen will“ und weist die „bösartige Legende“ zurück, bei seinem China-Besuch diese Fragen unter den Teppich gekehrt zu haben. Aber auch den Wirtschaftsliberalen hat Kinkel etwas zu bieten: zu den drängendsten Problemen der Bürger gehöre auch „der Mißbrauch unserer großzügigen Sozialleistungen“, nicht nur die Sorge um die Arbeitsplätze, der „Migrationsdruck“ und die Angst vor Wohnungsnot und Kriminalität. Freilich ist Kinkel außerdem auch sozialliberal. „Die Stärke eines Staates mißt sich daran“, sagt er, „wie er mit den Schwachen umgeht.“

Hört man solche Bekenntnisse, hört man den Satz formulieren, im Mittelpunkt aller Politik, auch der Außenpolitik, stehe der Mensch, dann möchte man sich mit Grausen abwenden vor so viel Phraseologie. Kinkels Parteifreunde wissen selbst: Ein mitreißender Redner ist ihr künftiger Chef nicht, ein Polemiker sowieso nicht. Man schiebt das auf seine schwäbische Herkunft. Die Langeweile habe einen Vorteil, versichert eine württembergische Liberale: „Der sagt, was er denkt, und das tut er auch.“

Was Kinkel denkt und sagt, umfaßt zuweilen auch nationalliberale Töne. Einerseits fordert er zum wiederholten Mal ein „Bündnis des Anstands“ gegen die Gefahr von rechts und distanziert sich deutlich von dem rechtsextremen FPÖ-Chef Jörg Haider: mit ihm habe die FDP nichts gemein. Andererseits verlangt er wiederholt einen „ehrlichen Patriotismus“ und ein „natürliches, ehrliches Nationalbewußtsein“.

Das, sagt Kinkel, „gehört auch zur erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung“ – als gehe es um eine ordnungsgemäße Konkursabwicklung.

Ein „Abstreifen unserer Vergangenheit“ sei nicht möglich, fügt er jedoch gleich hinzu. Auch ein Einsatz deutscher Soldaten in Ex- Jugoslawien bleibt für den Außenminister weiterhin unangebracht – so sehr er beim Thema Bundeswehr für eine „Normalisierung unserer außenpolitischen Handlungsfähigkeit“ plädiert.

„Von uns Politikern“, sagt Kinkel, „wird zu Recht Solidität, Vertrauenswürdigkeit und der Einsatz für die res publica verlangt“. Soll heißen: Von Kinkel kann man das erwarten. Kinkel, sagt sein Ziehvater Hans-Dietrich Genscher im Stuttgarter Staatstheater anerkennend, das sei „die personifizierte vetrauensbildende Maßnahme“.