Keine Politiker mit Zivilcourage gefunden

■ Vorsitzender der Türkischen Gemeinde begründet Verzicht auf Preisvergabe

Berlin. Die Türkische Gemeinde zu Berlin verzichtet 1992 auf ihre traditionelle Preisverleihung an Politiker. Die taz sprach mit ihrem Vorsitzenden Mustafa Turgut Cakmakoglu über die Gründe.

taz: Herr Cakmakoglu, was ist das für ein Preis, den die Türkische Gemeinde alljährlich vergibt?

Cakmakoglu: Damit werden Politiker ausgezeichnet, die sich für das friedliche Zusammenleben mit den Ausländern engagieren und dabei keine Gruppe gegen die andere ausspielen. Diese kleine Ehrenauszeichnung haben bisher die Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John, Heiner Geißler, unser Bonner Botschafter Onur Öymen, die ehemalige Bundesausländerbeauftragte Lieselotte Funcke sowie Klaus Kinkel in seiner früheren Funktion als Justizminister bekommen.

Aber 1992 haben Sie niemand für preiswürdig befunden?

Nein. Wir hatten darüber Diskussionen in unserem Vorstand und in unserem Repräsentantenrat. Es wurden zwar einige Namen genannt, aber auch sie konnten nicht überzeugen. In der Erklärung unserer Gemeinde heißt es: Zwar werden mehr Menschen denn je gebraucht, die mit Zivilcourage und Engagement für Verständigung und gegen Rassismus eintreten. Aber die Mehrheit hat im Rekordjahr rassistischer Gewalt in der Bundesrepublik zu lange geschwiegen. Die Politiker, so möchte ich ergänzen, haben zu spät und nur mit Lippenbekenntnissen auf die Gewalttaten reagiert. Das reicht nicht aus, um die Situation der Ausländer zu verbessern. Man kann nicht dreißig Jahre lang eine Gruppe von allen Bürgerrechten entbinden, ihnen aber alle Bürgerpflichten aufbürden. Wir werden uns nun am Ende des Jahres 1993 noch mal zusammensetzen und hoffen, daß es in der Zwischenzeit eine Wende zum Guten geben wird.

Ist das eine realistische Hoffnung angesichts der immer noch tobenden „Asyldebatte“?

Ich glaube nicht, daß man mit der Änderung des Artikel 16 irgend etwas ändern kann. Daß man jetzt Infrarotgeräte gegen Flüchtlinge an der deutsch-polnischen Grenze einsetzen will, ist menschenunwürdig. Das ist eine andere Art von Mauer. Solange der Unterschied zwischen Entwicklungs- und Industrieländern so groß bleibt, wird man die Menschen eh nicht an der Flucht hindern können. Für sie geht es um Leben und Tod. Man muß die Situation der Menschen in ihren Ländern verbessern und ein anderes Weltwirtschaftssystem entwickeln, das ihnen eine echte Hilfe anbietet. Das jetzige System mit Weltbank und Weltwährungsfonds hat versagt. Interview: usche