Eisen gehen

■ „Winter in Berlin um 1900“ – Ein Vortrag im Märkischen Museum

Selbst an tückischen Glatteistagen findet der Winter seine Liebhaber. Zehn Unverdrossene kamen in den finsteren, an eine Ziegelsteinkathedrale erinnernden Bau des Märkischen Museums, um den Abendvortrag „Winter in Berlin um 1900“ zu hören.

„Meine Jacke laß ich an.“ Die laut und vernehmlich vor einem Garderobenständer getroffene Entscheidung eines Besuchers wird von den leicht ergrauten Damen und Herren fast ausnahmslos übernommen. Es ist frisch. In Mänteln und Steppjacken, mit Mützen und Schals verfolgen wir den ersten Teil des Vortrags: eine Führung durch die beiden kleinen Räume der Ausstellung zum Thema „Winter“. Hela Zettler wünscht uns ein gutes neues Jahr, bevor sie an der vordersten Vitrine auf ihr Spezialgebiet, das „besonders aktuelle Thema Winter“, zu sprechen kommt. Was man sieht, das muß nicht lange erklärt werden. Schlitten und Schlittschuhe, Abbildungen von Sportsmännern – erst ab 1850 durften auch Frauen aufs Eis –, die Fotografien und Zeitungsberichte sprechen für sich. Die Frage aus dem fröstelnden Publikum läßt nicht lange auf sich warten: Wie „Eisbeinschlittschuhe“ aussehen, will eine Stimme von hinten wissen. Niemand kennt die Antwort. Von einer Schlittschuhläuferin kommt der Rat: „Gehen Se mal ins Völkerkundemuseum.“ Auch an anderen Stellen hilft man sich gegenseitig, denn durch dumme Zufälle – so ist zu hören – kommt gelegentlich das Hinweiskärtchen weg.

Vielleicht ist's wahr, vielleicht auch nicht: Der Winter ist früher länger gewesen, es gab mehr Schnee und noch mehr Eis als dieser Tage. Da erinnert man sich gern. Auch Großvater Zettler ist während der großen Arbeitslosigkeit „eisen gegangen“ – er hat Eisschollen aus der Havel gesägt. Für Eisschränke – „Nicht zu verwechseln mit den heutigen Kühlschränken!“ mahnt ein Herr, der unentwegt mit einem Diktiergerät hantiert – gab es zwei Sorten Eis: Das eine durfte man lecken – das war von Linde aus der Maschine – das andere nicht, das kam aus der Havel. Bis 1951 fuhr der Eismann durch Pankow. „Das waren Zeiten...“, sagt einer und schüttelt den Kopf. Schließlich geht es in den Keller. Neben ausgestelltem Weihnachtsschmuck („Das lassen wir noch 'n bißchen, weil's so gut paßt“) wird es am langen Preßspantisch gemütlicher. Auf einem Mauervorsprung stapeln sich nun die Mäntel. Frau Zettler liest „Berichte von damals“, nicht immer flüssig, aber mit pädagogischem Eifer. Zum Artikel über die Schneebeseitigung von 1884 wandern Fotos um den Tisch: Sie tragen den hübschen Titel „Die Stadtreinigung im Kampf mit den Schneemassen“. Beim Bericht über die Schneekehrmaschine von Henschel, einer „Dienerin des allgemeinen Wohls“, nickt der Herr im braunkarierten Wollhemd. Er legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen, auf seiner Herrenhandtasche liegt das Diktiergerät. Nach fast einstündiger Lesung, soeben wird in einer Analyse von 1957 der Brauch des Neujahrgratulierens als Auswuchs des Feudalsystems beschrieben, stehen die ersten auf und zwängen sich wieder in die Mäntel. Die Geste wird verstanden, eine vage Ankündigung setzt dem Vortrag ein abruptes Ende. „Erzählungen über die Berliner Weihnachtsbälle“ stehen also im nächsten Winter auf dem Programm. Und der kommt ja bestimmt. Stephan Schurr