Ein Prozeß, unrettbar zur Klamotte entartet

■ Honecker-Prozeß: Der ständige Prozeßbeobachter Uwe Wesel, FU-Professor für römisches Recht, zum Scheitern der Justiz/ „Der Rechtsstaat bekommt gerade noch die Kurve“

taz: Ist die Abtrennung des Verfahrens gegen Herrn Honecker eine Vorentscheidung für ein baldiges Ende?

Uwe Wesel: Ja. Das bedeutet, daß das Verfahren am Donnerstag nächster Woche eingestellt und der Haftbefehl aufgehoben wird.

War es denn nur abhängig vom abgelösten Richter Bräutigam, daß die Fragen des Menschenrechts aus dem Blick kamen?

Richter Bräutigam hat die falsche Entscheidung getroffen, den Prozeß gegen Herrn Honecker nicht einzustellen. Er hat diese glatte Fehlentscheidung mehr oder weniger mit seinem Ausscheiden bezahlen müssen. Aber man kann ihm nicht vorwerfen, daß er bewußt gegen die Würde des Angeklagten Honecker gehandelt hat.

Mußte Herr Bräutigam zum Sündenbock werden, gerade weil er den zum Scheitern verurteilten Versuch unternahm, jenes unausgesprochene Anliegen der Bonner politischen Klasse umzusetzen, einen politischen Prozeß an Herrn Honecker zu exekutieren?

Es ist ohne Zweifel ein politischer Prozeß, obwohl das Gericht und die Staatsanwaltschaft immer das Gegenteil behaupten. Das ist die Abrechnung mit der herrschenden Klasse der DDR – gar keine Frage. Herr Bräutigam hat hier aber keinen Fußtritt bekommen, sondern das Bein hat er sich selber gestellt.

...ein Bein gestellt in Verfolgung dieses unausgesprochenen Auftrags?

Ja. Aber er hätte diesen Auftrag nun auch so ausführen können, daß er keinen Fußtritt bekommen hätte. Er hätte mühelos das Verfahren so ruhig führen können, wie sein Nachfolger das gestern gemacht hat. Herr Bräutigam ist von Fernsehen und den Zeitungen zum Sündenbock gestempelt worden. So schlecht aber war er nicht. Er hat den Prozeß verhältnismäßig gut geführt. Er ist sehr eitel und sehr leichtsinnig. Andererseits hat er den Prozeß doch ziemlich schnell vorangebracht, und er hat auch immer eine gewisse Fairneß gegenüber den Angeklagten walten lassen. Daß er jetzt zum Sündenbock gestempelt wird, das liegt natürlich in einem höheren Sinne an den unausgesprochenen Erwartungen an den Prozeß.

Ist Herr Bräutigam, so eine Äußerung, der „Möllemann der Strafjustiz“?

Nein. Man kann über Herrn Bräutigam sehr viel Schlechtes sagen: Er hat sich in teilweise unappetitlicher Weise über die Westberliner Linke geäußert, er hat unter Pseudonym in der Morgenpost kommentiert, er hat sich öffentlich als Antikommunist bezeichnet, was bezüglich des Prozesses gegen Herrn Honecker nicht besonders geschmackvoll ist, obwohl man auch als Antikommunist einen solchen Prozeß fair führen könnte. Ich hatte auch den Eindruck, er würde es getan haben. Er war zu fahrig, und er war zu leichtsinnig. Das hat ihm das Genick gebrochen. Er hat im Prozeß keinen sehr guten Eindruck gemacht, aber auch nicht den schlechten, den man jetzt von ihm malt.

Trotz der gestrigen Entwicklung: Der Prozeß ist längst zu einer Posse abgeglitten.

In der Tat ist dieser Prozeß zu einer Klamotte entartet: weil man ihn überhaupt gegen einen Totkranken eröffnet hat und weil der Vertreter der Nebenkläger in unerträglicher Weise Lächerlichkeiten in diesen Prozeß eingeführt hat, zuletzt die These, Honecker habe keinen Krebs, sondern nur einen Bandwurm. Das hat einen fürchterlichen Eindruck hinterlassen müssen. Insofern ist das Ziel, die Abrechnung mit der DDR hier zu führen, mindestens auf seriöse Weise mißlungen. Der Schaden wird auch nicht wiedergutzumachen sein.

War der Richter überfordert oder das Recht?

Einerseits war der Richter überfordert, zum anderen ist in diesem Fall der Rechtsstaat völlig überfordert, über einen Unrechtsstaat zu urteilen, denn es gibt keinen Straftatbestand „Errichtung eines Unrechtsstaats“. Insofern geht dieser Prozeß an der eigentlichen Sache vorbei. Herr Mielke ist ja nicht verfolgt, weil er 1932 mal zwei Polizisten erschossen haben soll, sondern weil er der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen ist. Genauso geht auch dieser Prozeß um die vierhundert Toten an der deutsch-deutschen Grenze an dem eigentlichen Problem des Unrechtsstats DDR, wenn man diesen denn überhaupt so bezeichnen will, vorbei.

Weil das Verfahren nicht mehr zu retten ist, befreit eine Einstellung die Justiz aus einer unlösbaren Klemme.

Man kann das positiver sehen. Der Rechtssstaat bekommt gerade noch die Kurve. Es ist ja auch ein gutes Zeichen für die Justiz, daß es möglich ist, einen Richter wegen Befangenheit aus dem Prozeß zurückzuziehen. Außerdem wird unsere Justiz ja in der kommenden Woche die Würde des Menschen – wenn auch mit einer peinlichen Verzögerung – achten.

Das Gespräch führte

Gerd Nowakowski

Siehe auch Seiten 1 und 4