Veni, Vidi, Video

■ Wim Wenders' Wahrnehmungsfibel „The Act of Seeing“

„Devil's Graveyard“, anders kann eine Wüste nicht heißen. Geröll, verdorrte Pflanzen und ein Mensch. Genauer gesagt ein Mann mit einer Schirmmütze. Mehr ist nicht zu sehen, und mehr ist nicht zu sagen. Das erste Bild. Wim Wenders setzt seine Figur mitten in der Wüste aus und schickt sie auf den Weg. Noch ist nichts da. Nur ein Mann ohne Geschichte. Wim Wenders füllt seine Bilder erst nach und nach mit Inhalten. „Paris, Texas“ fängt so an, und auch die anderen Filme von Wim Wenders zeigen zunächst nur Bilder, die die Haltung des Filmemachers nicht verraten. Sein Blick will anders sein. Sehen heißt für ihn „In-die- Welt-Eintauchen“, im Gegensatz zu der Art von Bildern, die im Fernsehen die Welt aus der sicheren Distanz des Wohnzimmers zeigen. Sehen bedeutet für ihn – anders als Denken – eine unvoreingenommenere Annäherung an Menschen oder Dinge: „Das schönere Wort für Sehen ist Wahrnehmen, weil da das Wort wahr darin ist. Das heißt, im Sehen ist für mich Wahrheit latent möglich.“ – Als eine Schule der Wahrnehmung könnte man das Buch von Wim Wenders bezeichnen, auch wenn es keinen durchgehenden Text enthält, sondern eine Reihe von Interviews, Vorträgen und kleineren Essays aneinanderreiht. Immer wieder kommt Wenders auf die für ihn zentrale Frage zurück, ob die von ihm beschriebene „Wahrheit“ des Bildes im Zeitalter der digitalen Revolutionierung des bewegten Bildes überhaupt noch möglich ist. Entscheidend für Wenders ist der Schnittpunkt zwischen Video- und 35-mm-Filmtechnik. Die Aufsätze und Gespräche sind alle zwischen 1988 und 1991 entstanden, dem Zeitraum also, in dem Wenders für die Filme „Aufzeichnungen von Kleidern und Städten“ und „Bis ans Ende der Welt“ zum erstenmal die Ablehnung gegenüber Video aufgab und es als Gestaltungsmittel einsetzte. Bedeutete früher Video für Wenders eben nicht „ich sehe“, sondern eher „ich sehe nicht“, vollzieht sich nun ein Wandel.

Auch vor fast zehn Jahren in „Lightning Over Water“, als sein Filmteam die Krankheit und das Sterben des Regisseurs und Freundes Nicholas Ray beobachtete, setzte Wenders Video als Metapher für die Krankheit ein: Das Videobild kam ihm damals wie „ein Krebsgeschwür“ innerhalb des Films vor, und so hat er es auch benutzt – zu sehen waren von der Krankheit infizierte Bilder. Seine Einstellung zu der noch jungen Technik änderte sich zum ersten Mal, als er den filmischen Essay über den japanischen Modeschöpfer Yohji Yamamoto drehte: „Mitten im Getümmel von Tokyo bin ich mir ursprünglich darüber klar geworden, daß ein ,gültiges Bild‘ dieser Stadt durchaus ein elektronisches Bild sein könnte, nicht nur meine so ,heiligen‘ Filmbilder auf Celluloid. In ihrer eigenen Sprache erfaßte die Videokamera Tokyo in einer dieser Stadt angemessenen Weise. Ich war platt.“

Einen vorläufigen Endpunkt fand Wenders' Beschäftigung mit dem elektronischen Bild in seinem Film „Bis ans Ende der Welt“. Die Traumsequenzen, die Jeanne Moreau zunächst wieder sehend und Claire und Sam später süchtig machen sollten, hat er in High Definition nachbearbeitet. Mit digitaler Bildtechnik sind so Bilder entstanden, die auf bis zu 100 Kopiervorgängen beruhen. Mit 35-mm- Filmtrick wären damit keine akzeptablen Bilder mehr entstanden. Am Ende dieses Prozesses steht der Filmemacher vor einer völlig neuen Qualität des Bildes.

Die Idee des „Originals“, die beim Film immer als Negativ existiert hat, ist plötzlich ad absurdum geführt. Die Realität aus zweiter Hand, wie sie das Film- und Fernsehbild noch vermittelt, ist einer ganz eigenen Realität gewichen. Der Manipulation des Bildes sind keine Grenzen mehr gesetzt. Das Bild entsteht aus sich heraus. Es braucht keine Wirklichkeit mehr – und erst recht keine Wahrheit.

Die Reaktion von Wenders auf die neue Dimension wirkt etwas hilflos. Wie ein Zauberschüler hat er die Pforten zu einer neuen Art des Sehens geöffnet und weiß nur zu gut, daß er Geister rief, die er nur schlecht zu beherrschen weiß. Er erkennt, daß sich der Wahrheitsanspruch, den er als Filmemacher an die Fotografie oder das Filmnegativ stellen kann, im digitalen Fernsehbild nicht mehr erfüllen kann. Wenders flüchtet in die Moral und appelliert an den bewußten Umgang mit der „Droge“ Bild: „Der einzige Schutz vor der Gefahr oder der Krankheit eines selbstgefälligen Bildes ist der Glaube an den Vorrang der Geschichte. Ich habe gelernt, daß jedes Bild nur eine Wahrhaftigkeit im Bezug zu einer Figur innerhalb der Geschichte besitzt.“ Damit befindet sich Wenders wieder am Anfang seiner Überlegungen. Ihn beim Nachdenken über das Sehen zu beobachten heißt, über die eigenen Unsicherheiten im Umgang mit den neuen Bildern zu reflektieren.

Wenders' Widersprüchlichkeiten, seine Flucht in die Ethik des Autorenfilmers, der das Erzählen einer Geschichte gegen die Dominanz der Technik stellt, ist niemandem fremd, der sich mit der Veränderung des medial vermittelten Bildes während der letzten Jahre auseinandergesetzt hat.

Der Leser muß diese Zusammenhänge selbst herstellen, was mitunter zu ermüdenden Wiederholungen führt. Warum der Lektor einige Passagen, die erneut auftauchen, nicht um der besseren Lesbarkeit gestrichen hat, ist unverständlich. Ein Buch, das derart deutlich auf Gesprächssituationen aufbaut, hätte Kürzungen vertragen, zumal manche Wiederholung nicht unbedingt zur Erhellung des Themas beiträgt. Christof Boy

Wim Wenders: „The Act of Seeing. Texte und Gespräche“. 266 Seiten, engl., brosch., Verlag der Autoren, 32DM.