Virtualität sichtbar gemacht

■ Sigmar Polkes Bilder in Mönchengladbach

Seit dreißig Jahren hüpft Sigmar Polke wie ein Diabolo unermüdlich durch die Hallen der Kunst. Seine jüngste Retrospektive in Amsterdam zeigte deshalb mitnichten gut Abgehangenes. Die von ihm mitgetragene Spielart der Pop-Kunst, der „kapitalistische Realismus“, ist noch heute witzig, und gelegentlich übt er sich darin weiterhin mit Erfolg („Brittas Schweine“, 1990). Weil er nicht sein Künstlerleben lang auf einem Bein stehen mochte, entwickelte Polke in den achtziger Jahren eine abstrakte Ader. Zur Biennale 1985 malte er ein Ensemble von sechs monumentalen Tafeln (5*3 Meter), die das Abteibergmuseum in Mönchengladbach gekauft hat und Teil der Ausstellung sind, die dort bis zum 31.Januar zu sehen ist. Sie bilden bis heute das Zentrum seiner Arbeit. In ihnen ersetzte er Farbe durch transparentes Kunststoffsiegel, das an Bernstein oder Honig erinnert. In alchimistischer Obsession probierte Polke noch andere Substanzen aus, in diesen Bildern waren es hydrosensible Farben, deren Tönung von der Raumfeuchte mitbestimmt wurde. So entstanden große – und wegen des Lacks spiegelnde – Flächen, und ihre bizarren Figuren stimulieren die Phantasie.

Auch mit Bildträgern experimentiert Polke. Leinwand ersetzt er gerne durch Deko-Stoffe, bunte Industrieware zur Herstellung von Volants und Kitteln. Seit einigen Jahren benutzt er Polyestergewebe, dessen Muster an Parkettböden erinnert. Durch die Tränkung mit Kunststoffsiegel wird das Polyester durchscheinend, weshalb Polke darauf verfiel, in der Art von Hinterglasbildern zu malen und die Rückseiten der Bilder nach vorn zu drehen. Dadurch schwächt sich die Wirkung der teilweise grellen Farben ab. Was die sogenannten „Parkettbilder“ (3*5 Meter) an Intensität einbüßen, gewinnen sie durch die Suggestion zurück, die Virtualität des Bildes selbst sichtbar zu machen. Polke wird gewiß noch viele Liter Kunststoffsiegel über Polyesterwände gießen, bis er zu so raffinierten Lösungen gelangt wie bei seinen Biennaletafeln. Im Abteiberg ist der Stand eines „work in progress“ zu besichtigen, die Exponate wurden erst kurz vor der Ausstellungseröffnung fertig. Im Zentrum der Ausstellung steht „Fungus Rock“ (Oktober 1992), ein auf der Vorderseite mit einer gerasterten Illustration bedrucktes Parkettbild.

Rasterbilder malte Polke schon in den 60ern; anders als Roy Lichtenstein ahmte er Zeitungsfotos nach. Auch in diesem neuen Opus wählte er ein wenig aufregendes Motiv, eine Insel im Mittelmeer, das er in einer Zeitungsannonce entdeckte. Daß auf dieser Insel rauscherzeugende Pilze wuchsen, ist im Katalogtext zu lesen. Polke illustriert weder Rausch (den er erzeugt) noch Pilzsuche. Mit seiner Komposition von sinfonischer Komplexität verbindet er die Aussagemöglichkeiten abbildender und nichtillustrativer Bilder.

In einem Kabinett befinden sich Studien, die um dieses Merkmal von Sigmar Polkes Arbeit kreisen. Seiner experimentellen Neigung kommen die mittels radioaktiver Strahlen gewonnenen Fotogramme entgegen: Steine mit geringem Radiumanteil bilden auf Fotopapier ab, nachdem sie Wochen darauf gelegen haben. Das Ergebnis ist ein diffuses Bild, das kaum an seine natürliche Entstehung erinnert, sondern ebensogut einen kosmischen Nebel zeigen könnte. In diesen Versuchen wie in jenen großen Tafeln betreibt Polke nicht die Verrückung von Maßstäben, sondern ihre Abschaffung. Christoph Danelzik